Vom Recht des Menschen auf Unbestimmtheit
Andreas Steffens übt in „Das Verhängnis Identität oder Der Zwang, etwas zu sein“ Kritik am identifizierenden Denken
Von Maximilian Lippert
Der Begriff der Identität ist schwer handhabbar. Seine Bedeutung in der Logik oder der Mathematik weist nur bedingt brauchbare Bezüge zu aktuellen Debatten auf und überhaupt scheinen seine verschiedenen Bestimmungen jeweils sehr zeitgebunden zu sein. Zudem existieren verschiedene miteinander interagierende individuelle und kollektive sowie Selbst- und Fremdidentitäten, die jeweils subjektive und objektive Anteile aufweisen. Das Problem der Identität ist ein genuin menschliches, da wir, des tierischen Instinktapparats weitgehend ledig, eine Art zweiter Natur auszubilden gezwungen sind, welche unsere Beziehung zur natürlichen und sozialen Welt regelt sowie uns die Einheit von Erleben und Handeln erfahren lässt. An der Schnittstelle zwischen Psychologie, Soziologie und Sozialanthropologie verortet, ist die Frage der Identität, wie sie heute Konjunktur hat, jedoch eine, die erst in der Moderne aufkommen konnte und sich in traditionellen Gesellschaften, in denen die Identität vor allem herkunftsbedingt war und sich von der sozialen Stellung innerhalb der eigenen Gruppe ableitete, noch nicht in dieser Form gestellt hat. Sie entwickelte sich auf der Grundlage des in der Neuzeit heraufgezogenen Individualismus, der wiederum auf der christlichen Aufwertung des Innenlebens, dem Rationalismus René Descartes’ sowie der Privilegierung individueller Interessen gegenüber gesellschaftlichen Verpflichtungen bei John Locke aufbauen konnte. In der Folge traten abwechselnd immer wieder politische Advokaten sowohl der individuellen als auch der kollektiven Identität auf, zudem die Kritiker der Verabsolutierung beider Ideen. Dabei stellte sich Identität wohl niemals so problembeladen dar wie heute, ob in der Grunderfahrung verschiedentlich bedingter gesteigerter Selbstentfremdung, der Auflösung angestammter Identitäten durch die Globalisierung sowie der Gegenbewegung dazu oder dem Auftreten aus sozialen Bewegungen hervorgehender immer neuer Gruppen im Zeichen sogenannter Identitätspolitik.
Der Philosoph Andreas Steffens geht in seinem Langessay Das Verhängnis Identität oder Der Zwang, etwas zu sein auf derlei Probleme ein, erörtert jedoch zuvorderst ihre Grundlagen aus onto-anthropologischer Perspektive. Es geht ihm also um das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, um die Grundbedingungen unseres Daseins. ‚Identität‘ zählt für ihn heute, nachdem man sich doch eigentlich „mit den letzten Resten von Idealismus auch von dem ‚Subjekt‘ und der Fabel seiner Souveränität als Bedingung gelingenden Lebens zu verabschieden“ angeschickt hatte, zu den „fragwürdigsten Wiedergängern im Denken“, zumal desto mehr über das Konzept geredet werde, je weniger von dem, auf das es sich jeweils bezieht, bekannt ist. Die bisher geleistete Kritik an Identität sieht der Autor deshalb keinesfalls als verworfen an, sondern möchte sie aufgreifen, überdenken und produktiv weiterführen. Dabei geht es ihm nicht nur um sein „Bedenken, dass die Identität, die man für sich beansprucht, nicht anders als die, die einem mitgegeben ist, eher behindern als fördern könnte, zu leben, was man ist“, sondern überhaupt um die „zerstörerischen Tendenzen“, welche dem auf dem Prinzip der Identität beruhenden Rationalismus innewohnen.
Steffens beginnt mit grundsätzlichen Überlegungen zu menschlicher Identität sowie zum menschlichen Unvermögen, ihrer habhaft zu werden. „Dass es etwas gibt, heißt nicht, es auch zu kennen“, und so habe zwar jeder ein aus „den Zufallswirkungen des Weltprozesses“ entstandenes Selbst, dessen er jedoch aufgrund der „Undurchdringlichkeit des Bedingungsgefüges“ sowie der „Beständigkeit des Wandels“ desselben niemals vollständig bewusst werden kann: „Niemand aber weiß, wer oder was genau er ist.“ Damit trägt Steffens zugleich der vielfältigen Bedingtheit unserer Identität Rechnung, wozu er „Genetik, Herkunft, Geschichte, Begabungen, unmittelbare Lebensumstände“ zählt, allgemein die „Kontingenz des eigenen Daseins als Wirkungen des Unverfügbaren, das einen hervorbrachte“. Denn „[w]as man ist aber, hängt am wenigsten von einem selbst ab“. Da jedes Selbst einmalig, kein Mensch mit einem anderen identisch ist, könne es entgegen dem gängigen Sprachgebrauch eigentlich auch per se keine ‚gemeinsame‘ Identität geben. Des Weiteren sei Identität stets dynamisch und in einem „Prozess unablässiger Bildung und Wandlung“ begriffen. Dabei könne man es zwar dazu bringen, „auf eine andere Art zu sein, was man ist“, jedoch „kein anderer sein als der, der man geworden ist“.
Doch wir seien nicht nur „mehr als wir wissen“, sondern auch „anders, als wir uns gegenseitig abverlangen“, und die Identität sei somit jenes „Phantom, das die Leerstelle dieser doppelten Verfehlung besetzt“. Steffens erkennt zwar an, dass jedes menschliche Leben von der Gemeinschaft und ihren kollektiven kulturellen Leistungen abhängig ist: „Niemand kann alleine leben. Alle sind auf alle, die mit ihnen leben, und deren Fähigkeiten in der Aufrechterhaltung dieser Leistungen angewiesen.“ Doch wo eine kommunitaristische Argumentation nun diese Konstitutivität der sozialen Beziehungen und der gesellschaftlichen Interaktion für die Identität des Einzelnen positiv wertet, sieht Steffens diese nur noch als „Maske dessen, was wir für andere zu sein darstellen müssen, um im Existenzgeflecht mit ihnen überhaupt sein zu können“. Die soziale Funktion der Identität behindere so ihre individuelle. Das Kollektiv stehe für den „Zwang zur Identität“ und „[n]ur wer ihm entkommt, wird ein eigenes Leben im kollektiven Dasein finden können. […] Individuelle Existenz steht dabei gegen kollektives Dasein.“
Anhand der Wissenschaftslehre Fichtes zeigt Steffens weiterhin auf, wie im Idealismus, der „als Kern der neuzeitlichen Mentalität […] in der zivilisatorischen Zuversicht, die Welt nach menschlichem Bedürfnis und Maß einzurichten, ungebrochen fort[wirkt]“, in der Selbstgewissheit des Subjekts die Möglichkeit von Identifizierung liegt: „Die Selbstgewissheit des Bewusstseins […] bedingt die Feststellbarkeit all dessen, was außerhalb dieses Subjekts existiert, das im Bewusstsein als ‚Nicht-Ich‘, als Unterscheidung vom ‚Ich‘ wahrgenommen wird.“ Das Subjekt, welches sich selbst gewiss meint und seine Objekte als das von ihm Unterschiedene wahrnimmt, werde somit zum „Zwingherrn seiner Wirklichkeit“, stifte diese überhaupt erst. Und jener ontologische Fehlschluss vom Gedanken oder Begriff auf das Gedachte oder Begriffene schließlich „legt den rationalistischen Mechanismus frei, nach dem die Unterdrückung des ‚Besonderen‘ durch ein gewaltsam errichtetes ‚Allgemeines‘ sich vollzieht, und verhindert, dass individuelle Identität sich unbeschränkt zur Geltung bringt“.
Hier greift der Autor nun auf die Kritik des Identitätsdenkens der Negativen Dialektik Adornos zurück. Als „Metakritik […] an der Erkenntnistheorie von Hegel bis Husserl“ stellt diese für ihn „die Rettung dessen, was an den Wirklichkeiten der Denkinhalte von der Logik als Werkzeug des Denkens nicht erfasst werden kann“, sowie „eine Philosophie der Achtung des Selbstseins alles dessen, was Denken zu bestimmen unternimmt“, dar. Adorno gehe es darum, das identifizierende, begriffliche Denken zu unterlaufen und so das Nichtidentische am Identifizierten zu erfassen, denn „[j]edes bedachte Sein übertrifft in seinem Eigensein jede Identifikation, mit der das Denken es belegt“. Dies gelte nicht zuletzt für den Menschen. So seien auch wir, die wir „in einer durch Identifikation geordneten Lebenswelt“ existieren, in unserem realen Dasein stets mehr, als begriffliche Vorstelllungen zu erfassen vermögen. Zur tatsächlichen Übereinstimmung mit sich selbst könne man daher nur im Widerstand gegen Identifikationen und durch Beharren auf der eigenen Nichtidentität gegenüber fremden Zuweisungen gelangen: „Die wahre Bestimmung eines Menschen beruht auf seiner tatsächlichen Nichtidentität mit den Begriffen seiner Identifikation im Lebenstausch mit Anderen.“
Die Identitätskritik Steffens’ weist ebenso politische Dimensionen auf. Neben der Rationalisierung von Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft sei schließlich „die Stringenz der Logik politisch zum Instrument einer Herrschaftsform, die über Daseinsrecht und -unrecht verfügt“, geworden. In einer „auf totale Integration zusteuernden Weltzivilisation“, welche „die Gesellschaften in Arbeitslager verwandelte, über deren totalitären Charakter lediglich der Wohlstand hinwegtäuscht“, werde schließlich die Unterdrückung jedes Eigenseins im „Regime der Eindeutigkeit“ auf die Spitze getrieben. Im Politischen fordert der Autor daher den „Verzicht auf die Entscheidung des logischen Entweder-Oder des Urteilens“ und das „Geltenlassen einander widerstrebender Verschiedenheiten“. In letzter Konsequenz verlange dies, überhaupt „auf den Diskurs über Identität zu verzichten, dessen Ziel die Eindeutigkeit der Bestimmung ist“. Denn „[w]eil niemand sein kann, was ein Anderer ist, kann niemand irgendwem sagen, wer er sei. […] Die Anmaßung, es zu tun, ist die Essenz des Totalitären“, welches sich für den Autor auch noch im „‚Freiwilligen sozialen Jahr‘, mit dem die Jugend auf das Regime der Ausbeutung Aller für Wenige vorbereitet wird“, widerspiegelt. Im Extremfall der „ideologisch rigorosesten Form der Anthropolitik“ als Politik verordneter Identität, wie sie für uns vor allem im letzten Jahrhundert zutage getreten ist, könne gar demjenigen, welcher der postulierten Bestimmung des Menschen nicht entspricht, das Mensch-Sein abgesprochen und seine Existenz systematisch ausgelöscht werden.
Folgende aktuelle Entwicklungen stehen für den Autor nun mit dem identitären Denken in Verbindung und gefährden in letzter Konsequenz die Daseinsbedingungen der Menschheit: Die topographische Verdichtung der Welt aufgrund gesteigerter Entgrenzung und Mobilität schränke die „sozialontologische Elementarbedingung“ ein, „man selbst nur in einem umgrenzten Raum sein zu können, zu dem Zutritt nur hat, dem man ihn gewährt“. Die Folge seien die verminderte Bereitschaft zur Anerkennung der Anderen als Teil des eigenen gesellschaftlichen Daseinsraumes, „Entmenschlichung von und Feindschaft gegenüber dem Fremden“. Eine ‚Ethik des Nächsten‘, die sich angesichts aktueller humanitärer Krisen weltweit als „‚Allerweltshumanismus‘“ (Adorno) äußere, müsse hier zwangsläufig fehlschlagen. Zudem lauere hinter der universalistischen Idee der Gleichheit aller Menschen der Gedanke eines universalen Menschseins, das es so nicht gebe, und damit der globale „Zwang zum Gleichsein“ sowie die Missachtung des tatsächlichen Verschiedenseins. Und schließlich entsprechen die Kämpfe der Menschen gegeneinander, „weil sie das Anderssein der Anderen als Bedrohung ihres Selbstseins empfinden“, dem zerstörerischen Kampf der Zivilisation gegen die Welt in Form von Ressourcenplünderung und Naturzerstörung.
Der dringend notwendige Ausweg aus dieser fatalen Identitätslogik beginne nun beim Individuum, das „zur eigenen Identität, zu sich selbst ‚Nein‘ […] sagen“ müsse, da sich Selbstbekanntheit nur durch Selbstzweifel erarbeiten lasse. Im Gesellschaftlichen fordert Steffens wiederum gerade in Zeiten weltumgreifender Migration und einer globalisierten Weltgesellschaft eine „Mentalität des Neutralen, die dazu befähigt, den Anderen als ein Dasein ohne identitätsfixierende Eigenschaft wahrzunehmen“. Denn um ihn als Menschen zu achten, bedürfe es der Anerkennung seiner Verschiedenheit: „Das Ungleiche aushalten zu können, ist das Gebot einer Kultur, die sich nicht dem Unmenschlichen ausliefern will, an dessen Beginn der unerfüllbare Anspruch steht, Verschiedenheit zu beseitigen.“ Es geht dem Autor darum, das „Entweder-Oder der Logik“ durch das „Sowohl-Als-Auch einer Daseinslogik zum Zweck gemeinsamer Daseinsbewahrung koexistierender Verschiedenheiten“ zu ersetzen. Als Beispiele dienen ihm etwa Migranten, intersexuelle Personen oder Völker, die sich bestimmten politischen Großräumen zu entziehen versuchen. Als umfassende Kategorie der Vermittlung widerstreitender Identitäten eigne sich jedoch weniger die viel zu abstrakte Idee der Menschheit, sondern die der Solidarität, genauer: „Daseinssolidarität“, deren einzige ethische Maxime lautet: „Nichts zu tun, was die Daseinsmöglichkeit aller gefährden müsste.“ Dem Einzelnen stehe schließlich nicht weniger als ein „Menschenrecht auf Unbestimmtheit“ zu.
Steffens entwickelt seine Überlegungen nicht streng systematisch. Er greift immer wieder Grundgedanken auf und betrachtet sie in neuer Hinsicht. In vielen offenen argumentativen Schleifen entfaltet er seine Kritik am identitären Denken und nutzt literarische Beispiele, um seine Ideen zu veranschaulichen. Die erfrischend grundsätzliche Auseinandersetzung mit scheinbar längst bekannten Konzepten erfordert immer wieder das Hinterfragen und Neu-Denken derselben. Seine präzise und dichte Sprache, die nicht selten in aphoristisch zugespitzten Aussagen gipfelt, entzieht sich dabei klaren Bestimmungen ihrer Gegenstände, umkreist diese oftmals stattdessen und regt damit umso mehr zum Nachdenken an. So wird auch an keiner Stelle prägnant ausformuliert, welches Konzept von Identität dem Essay überhaupt genau zugrunde liegt. Dessen Erarbeitung in Auseinandersetzung mit dem Text als Ganzem ist vielmehr der Anstrengung des Lesers überlassen. Schließlich werden die Wege, wie dem identifizierenden, begrifflichen, logischen Denken zu entkommen wäre, aber nicht wirklich aufgezeigt und auch die politischen Forderungen des Autors bleiben eher vage.
Wenig einleuchtend ist zudem die Gegenwartsdiagnose „schwindender Freiheiten bei zunehmenden Identitätsverpflichtungen“. Haben wir es denn statt einer „Wiederkehr autoritärer Verführungen, die sich mit einer neuen Sehnsucht nach Identität verflechten“, nicht vielmehr mit dem postmodernen Phänomen zu tun, dass Identitäten gezielt zerfließen, zersplittern, verschwimmen sollen? Ist nicht die einzige große Erzählung, die zumindest im Westen bis heute gesellschaftlich wirksam geblieben ist, jene des Marktes, welche sich von allen vorangegangenen insofern unterscheidet, als sie die Bildung fester Identitäten keineswegs fördert? Steffens arbeitet sich zwar daran ab, dass durchökonomisierte, kapitalistische Gesellschaftsformen vonseiten ihrer Mitglieder zunehmend instrumentelle Handlungsmuster erfordern. Dass ebendiese jedoch Zwecksetzungen mit innerem Wert, wie Identität eine darstellt, tendenziell zuwiderlaufen, berücksichtigt er nicht. Eine stärker historisierende Perspektive hätte außerdem erkennen müssen, dass das Denken in früheren Zeiten viel stärker mit Strategien der Generalisierung, Typisierung und Toposbildung arbeitete, was sich in der Regel zuungunsten individueller Freiheit, aber zugunsten des Schutzes der Gruppe auswirkte. So entwirft Steffens die Idee einer auf dem „Abschied von einer Politik der Identität“ basierenden, „künftige[n] kulturelle[n] Selbst-Bestimmung Europas“, doch wer kann schließlich sagen, ob ‚Europa‘ beispielsweise den Türkenangriff auf Wien hätte abwehren können, wenn man seinerzeit nicht ein derart starkes Feindbild kreiert hätte, das natürlich wiederum auch auf das Eigenbild zurückwirkte.
Dass der Autor der Idee von Identität per se nichts Positives abgewinnen kann, ist in seinem individualistischen Menschenbild begründet, auf dem viele seiner starken Prämissen fußen. In seinem Diktum: „je weniger Identität, desto mehr Freiheit“, geht er zwar nicht so weit, Freiheit als Unabhängigkeit zu verstehen, die für den Menschen schließlich prinzipiell unmöglich ist. Wenn er allerdings schreibt: „je mehr einer von sich und den Dimensionen seiner Existenz und ihren Bedingungen weiß, desto weniger bedarf er des Rückhaltes fixierter Bestimmungen“, dann ignoriert er, dass doch jene Dimensionen erst das Ergebnis gesellschaftlich bestimmter Bedingungen sind. Es bleibt insgesamt unklar, wann äußere Determinanten die Identität mitbegründen, was Steffens ja durchaus anerkennt, und wann sie diese stattdessen einschränken oder verzerren. Und wie gelangt man überhaupt zur Selbsterkenntnis und wird sich dieser bewusst? Auch vom menschlichen Bedürfnis nach (gemeinsamer) Identität und den womöglich positiven Folgen identifizierenden Denkens schreibt Steffens wenig. Er mag zwar Recht behalten, wenn er schreibt, dass es „Freiheit […] nur als individuelle gibt“ und „Glück […] nur als individuelle Erfahrung [existiert]“, vernachlässigt jedoch, dass sich diese Güter stets nur in Gemeinschaft begründen lassen.
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