Ein kurzes, aber intensives Leben
Carsten Gansel legt die erste umfassende Biografie über Brigitte Reimann vor
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Jahr 2023 ist ein Doppeljubiläum für die Schriftstellerin Brigitte Reimann: am 20. Februar starb sie vor fünfzig Jahren in Berlin und am 21. Juli wurde sie vor neunzig Jahren in Burg bei Magdeburg geboren. Aus diesem Anlass hat der Berliner Aufbau-Verlag, der sich seit den frühen 1960er Jahren um die Veröffentlichung ihrer Werke verdient gemacht hat, bereits zu Beginn des Jahres vier aktualisierte Neuausgaben ihrer Werke herausgebracht. Neben den bekannten Romanen Die Geschwister (1963) und Franziska Linkerhand (posthum 1974) den Roman Ankunft im Alltag (1961), in dem drei Abiturienten vor ihrem Studienbeginn ein praktisches Jahr in einer Brikettfabrik absolvieren, sowie unter dem Titel Ich bedaure nichts – Mein Weg zur Schriftstellerin (1997) Reimanns Tagebücher von 1955 bis 1963, die den Zugang zu ihrem Leben und Werk öffnen.
Mit Ich bin so gierig nach Leben ist nun kurz vor ihrem 90. Geburtstag die erste umfassende Biographie über die DDR-Autorin erschienen. Anhand von bislang unbekanntem Archivmaterial und zahlreichen Interviews mit WeggefährtInnen liefert der Literaturwissenschaftler Carsten Gansel eine spannende Neubewertung des Lebens von Brigitte Reimann mit seinen Höhen und Tiefen sowie ihres komplexen Werkes, das seit einigen Jahren wieder eine Renaissance erlebt. Vor allem die Tagebücher (1955 bis 1970) der leidenschaftlichen Frau und eigenwilligen Schriftstellerin sind für Gansel wertvolle Zeitzeugnisse: „Sie haben die Perspektive des Authentischen“, wobei ihre beiden Tagebücher nach 1970 bis heute verschollen sind.
Brigitte Reimann gilt als eine der bemerkenswertesten und schillerndsten Stimmen der DDR-Literatur. Sie verkörperte das Lebensgefühl einer ganzen Generation, die in den 1960er Jahren den realen Sozialismus der noch jungen DDR erlebte und sich mit ihm auseinandersetzte. In ihren Romanen und Erzählungen hatte sie meist Frauenschicksale und ihren Drang zur Emanzipation geschildert, sie fordern ihr Recht auf ein erfülltes, glückliches Leben. Nach ihrem frühen Tod geriet sie etwas in Vergessenheit, doch nach der politischen Wende 1989/90, vor allem ab den späten 1990er Jahren stieß ihr Werk bundesweit auf eine große Resonanz. Auch in den letzten Jahren ist das Interesse an Brigitte Reimann wieder ungebrochen, selbst internationale Bekanntheit erfuhr sie. So ist in diesem Jahr ihr Roman Die Geschwister in englischer Übersetzung von Lucy Jones in den USA und Großbritannien erschienen; Franziska Linkerhand soll demnächst folgen.
In 43 Kapiteln folgt Gansel detailliert dem Lebensweg seiner Protagonistin. 1933 in Burg als Tochter eines Bankkaufmannes geboren, verbrachte sie die ersten sechsundzwanzig Lebensjahre trotz der Provinzialität der Kleinstadt im Jerichower Land im Kreise der Familie und ihrer drei jüngeren Geschwister. Mit 14 Jahren erkrankte sie an Kinderlähmung. Monatelang blieb sie ans Bett gefesselt. Sie begann zu schreiben, um ihr Alleinsein und die Hilflosigkeit zu überwinden. Schon früh träumte sie davon, Schriftstellerin zu werden. Mit dem Sozialismus verband sie große Hoffnungen. Aber ebenso wichtig wie die gesellschaftlichen Ereignisse waren für die Heranwachsende Freundschaften und Liebesabenteuer. Jede Liaison hinterließ ihre Spuren, deren emotionalen Höhen und Tiefen die Biografie behutsam ergründet. Reimann heiratete viermal, das erste Mal mit 20 Jahren. Ihrem zweiten Ehemann, dem Schriftsteller Siegfried Pitschmann (1930-2002), folgte sie 1960 nach Hoyerswerda. Erst fünf Jahre zuvor war dort der Grundstein für die gewaltige Erweiterung des Ortes gelegt worden. Im VEB Kombinat Schwarze Pumpe arbeitete sie in einer Rohrlegerbrigade und leitete einen „Zirkel Schreibender Arbeiter“. Diese Erfahrungen fanden ihren Niederschlag in dem Kurzroman Ankunft im Alltag, mit dem sie der sogenannten „Ankunftsliteratur“ in den 1960ern den Namen gab. Später ging sie mit ihrem ersten literarischen Erfolg hart ins Gericht.
Die Ehe hielt jedoch nur fünf Jahre: „es war kein Verlangen da, nichts von Begierde“. Außerdem verfolgten Reimann und Pitschmann zwei gegensätzliche Schreibkonzepte. Während sie häufig in einen Schreibrausch verfiel, drehte er jeden Satz „fünfundzwanzigmal“ um. In diesem Lebensabschnitt geht Gansel auch ausführlich auf den sogenannten „Bitterfelder Weg“ ein, jene Episode der DDR-Literatur, in der man Künstler in die Betriebe schickte, um im Austausch von Arbeitern und Intellektuellen eine neue sozialistische Kultur entstehen zu lassen.
Als ihr Bruder Lutz 1960 mit Familie in den Westen ging, war das für Reimann eine Tragödie, die sie in dem Roman Die Geschwister verarbeitete. Immer wieder fragte sie sich: „Was hättest du tun müssen, ihn zu halten?“ Reimann war durchaus überzeugt, im „richtigen“ deutschen Staat zu leben, und wollte dabei helfen, ihn zu gestalten. Dennoch artikulierte sich in diesem Roman, wie Gansel aufzeigt „eine Stimme, die auf etwas Neues orientiert. Erstmals tritt in ihrem Werk selbstbewusst das eigene Ich in Erscheinung“. Durch Zufall wurde 2022 das Originalmanuskript wieder aufgefunden. Damit konnten der Zensur zum Opfer gefallene Passagen wieder eingefügt werden.
Als 1968 bei Reimann Brustkrebs diagnostiziert wurde, zog sie sich nach ihrer Operation auf Einladung des dortigen Schriftstellerverbands ins mecklenburgische Neubrandenburg zurück. Trotz dritter Scheidung und geplagt von körperlichen Beschwerden, beginnt sie hier mit ihrem Opus magnum, dem Franziska Linkerhand-Roman über eine junge, ehrgeizige und lebenshungrigen Architektin, die voller Ideale ihre erste Stelle antritt, doch angesichts der „Seelenlosigkeit“ des sozialistischen Städtebaus gründlich desillusioniert wird. Der Roman, der ein authentisches Bild der DDR der 1960er Jahre zeichnete, blieb jedoch ein Fragment, denn im Februar 1973 erlag Brigitte Reimann im Alter von 39 Jahren den Folgen ihrer Krebserkrankung. Ihr kritischer Roman Franziska Linkerhand, um den sie bis zum Schluss gekämpft hatte, konnte ein Jahr nach ihrem Tod als Fragment erscheinen. Inzwischen war in der DDR 1972 eine gewisse politische Tauwetterzeit eingetreten. Reimanns Nachlass wird vom Neubrandenburger Literaturzentrum verwaltet.
Neben der Biografie und der Kulturpolitik der DDR beleuchtet Gansel auch eingehend das literarische Werk – mit Entstehungsgeschichte, teilweise detaillierter Inhaltsangabe und früher Rezeption. Dabei stellt er immer wieder Bezüge zu anderen SchriftstellerInnen ihrer Generation her, z.B. zu Christa Wolf und Uwe Johnson. Reimanns Werk (wie auch das vieler anderer DDR-SchriftstellerInnen) war immer ein Spagat zwischen den von den Verlagen gewünschten Manuskripten und den eigenen Vorstellungen. Reimann war ein Beispiel für Künstler, die sich zwar in das DDR-System einfügten, sich aber immer mehr mit ihm kritisch auseinandersetzten.
In seinem Epilog resümiert Gansel: „Was bleibt, ist ein Staunen über Brigitte Reimanns eigenwillige Stärke. Wie aktuell wirkt aus heutiger Sicht dieses unangepasste Leben einer Schriftstellerin, die vielen als Femme fatale galt, aber vor allem eine moderne, selbstbestimmte Frau war, deren Literatur sich für jede neue Generation als erstaunlich relevant erweist.“ Ergänzt wird die Neuerscheinung neben fünfzig Abbildungen und einem Personenregister durch einen umfangreichen Anhang (immerhin 90 Seiten) mit zahlreichen erläuternden Anmerkungen zu jedem Kapitel.
|
||||||||||