Traumhaft sieht anders aus

Irma Duraković interessiert sich für Traumwelten und Träume bei Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann und Marie Eugenie delle Grazie

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die an der Universität Sarajevo lehrende, als (Mit-)Herausgeberin bislang mit drei literatur- bzw. filmwissenschaftlichen Sammelbänden und als Übersetzerin deutschsprachiger Literatur ins Bosnische und Serbische hervorgetretene Irma Duraković setzt sich in TraumLeben. Traumpoetiken der Wiener Moderne zentral mit den frühen Erzählungen Das Märchen der 672. Nacht (1895), Soldatengeschichte (1895/96) und Erinnerung schöner Tage (1907) von Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmanns Erzählung Der Tod Georgs (1900) sowie mit dem Essay Traumland (1901) und den Erzählungen Der goldene Schlüssel (1907) und Seelendämmerung (1907) von Marie Eugenie delle Grazie auseinander. Auf eine angesichts des Themas naheliegende Beschäftigung mit Arthur Schnitzler wird aus streng genommen salvatorischen Gründen verzichtet. Unter anderen lägen bereits „zahlreiche“ diesbezügliche Studien vor; hingewiesen wird auf solche aus den Jahren 1958 bis 1987.

Dem Charakter nach handelt es sich bei der Studie um eine zwar von Fleiß und dem unablässigen Bemühen um Absicherung durch das ausgiebige Zitieren von Forschungsliteratur zeugende, doch insgesamt wenig inspirierende Dissertation von bescheidener Ergiebigkeit. Ein Hinweis auf eine Dissertation bzw. auf ein Promotionsverfahren fehlt zwar im Buch, doch hat die Verfasserin 2017 an der Universität Wien promoviert, vermutlich mit dieser Studie. Ziel der Arbeit soll es jedenfalls sein, die der Behauptung nach „nicht hinreichend analysierten Traumdarstellungen“ der genannten AutorInnen zu untersuchen, damit einen „Beitrag zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Traums“ zu leisten und „ein differenzierteres Bild der Traumpoetiken in der Wiener Moderne“ zu zeichnen.

Dem Resümee der Verfasserin nach gibt es in der Wiener Moderne drei typologisch zu verstehende Umgangsformen mit dem Traum: „Wirklichkeit selbst als etwas Traumhaftes“ (Hofmannsthal), explizite Träume (Beer Hofmann) und intensive, um sexuelle Wünsche kreisende explizite Träume (delle Grazie). In allen Fällen gehe es um den Versuch, „aus der modernen wie auch aus der patriarchalischen Welt“ zu fliehen bzw. diese „im Traumdasein zu überwinden und zu überspielen.“

Das erste Kapitel „Traumdiskurs in Theorie und Literatur“ gibt, folgt man der Verfasserin, den Forschungsstand wieder, referiert den Traum „in der Traumforschung und Ästhetik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ und fokussiert auf das „literarische und psychoanalytische Traumverstehen“. Mit Peter-André Alt, Wilhelm Richard Berger, Bernard Dieterle, Manfred Engel, Elisabeth Lenk und Hans-Walter Schmidt-Hannisa fallen im Unterkapitel „Forschungsstand“ in der Tat wichtige Namen. Andererseits fragt man sich, warum hier zum übergreifenden Thema „Traum/Traumwelten“ nicht auch Teile der doch einschlägigen, umfangreichen Schnitzler-Forschungsliteratur (bspw. Jacques le Rider, Michael Scheffel, Ulrich Weinzierl) mit eingeflossen sind.

In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass lediglich gut 20 Prozent der im Literaturverzeichnis aufgelisteten Sekundärliteratur – darunter werden hier bemerkenswerter Weise auch Titel von Rudolf Arnheim, Henri Bergson, Egon Friedell, Barbara Frischmuth, Carl Gustav Jung, Karl Kraus, Ernst Mach, Ovid und Georg Simmel gezählt – aus den letzten beiden Jahrzehnten stammen, ein einschlägiger Teil hingegen aus den 1930ern und den 1950er bis 1970er Jahren. Dass das allerdings keinesfalls per se von Nachteil sein muss signalisieren Titel von WissenschaftlerInnen wie Richard Alewyn, Manfred Diersch, Jens Malte Fischer, Bruno Hillebrand, Elisabeth Lenk oder Gotthard Wunberg.

Im forschungsgeschichtlich vor allem auf Stefan Goldmann und Michael Rohrwasser gründenden, insgesamt akzeptablen Unterkapitel zur „Traumforschung und Ästhetik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ werden mit Sigmund Freud, Karl Albert Scherner, Ludwig Strümpell, Friedrich Theodor Vischer, Johannes Volkelt und Wilhelm Wundt entscheidende Positionen skizziert.

Wie zu erwarten, geht es dann im schmalen dritten Unterkapitel über „literarische[s] und psychoanalytische[s] Traumverstehen“ um Hofmannsthals, Beer-Hofmanns und insbesondere um Schnitzlers bekannte, bei aller Anerkennung doch auch „kritische Äußerung[en]“ zu Freud.

Das zweite, ca. 80 Seiten umfassende Kapitel der Studie gilt Hugo von Hofmannsthal. Die Verfasserin fragt u. a. wenig überraschend danach, welche „Bedeutung […] der Traum bei Hofmannsthals Figuren“ gewinnt: „Sind es Träumer oder nur verstörte Phantasten?“ Der Sinn der sich daran anschließenden Frage hat sich mir allerdings nicht erschlossen: „Welche Kluft herrscht zwischen der Innen- und Außenwelt, die nicht nur im Traum aufeinanderstoßen, sondern sich zwischen diesen beiden Sphären durch eine traumhafte Stimmung bewegen?“ Wer bewegt sich hier? Ist der Satz überhaupt vollständig?

Zunächst werden unter Rückgriff auf Hofmannsthals Aufsätze über D’Annunzio und Ibsen dessen „Lebensbegriff und die Tatproblematik“ thematisiert, weil nur so die literarische Traumdarstellung in seinem Werk untersucht werden könne. Dann geht es um das Verhältnis von Dichten und (Tag-)Träumen, um „Sprach- und Realitätsverlust“ („Chandoskrise“) und um das Verhältnis von realen und literarischen Träumen, bevor die eingangs genannten drei frühen Erzählungen unter Bezug auf weitere Texte Hofmannsthals (Was die Braut geträumt hat, 1896/97; Der weisse Fächer, 1897; Eines alten Malers schlaflose Nacht, um 1903) daraufhin erörtert werden, wie hier „Traum und traumhafte Atmosphäre mit dem Lebenspathos verzahnt ist [sic!].“

Unterm Strich kommt die Verfasserin zu dem m. W. hinlänglich bekannten Ergebnis, dass für Hofmannsthal quasi archetypische Figuren wie der Kaufmannssohn (Das Märchen …) und der Soldat (Soldatengeschichte) nicht wirklich träumen, sondern die äußere Wirklichkeit „in einem Zustand des traumhaften Zustands“ wahrnehmen. „Die Selbstfindung verläuft nicht auf dem direkten Weg, […] sondern indirekt, über die äußere Welt. Somit erweist sich die Unauflöslichkeit von Drinnen und Draußen als grundlegend für die Erkenntnis, dass“ – ein leider entstelltes Zitat Hofmannsthals aus dem Nachlass – „,das Leben im ganzen ein Traum [und; Klammer von I. D.] alles Leben in [sic!; im einzelnen] als [sic!; aus] Phantasmen zusammengesetzt ist.‘“

Der erste Teil des eher schmalen (36 Seiten) dritten Kapitels über Richard Beer-Hofmanns Erzählung Der Tod Georgs handelt von der „zeitgenössische[n] Rezeption der Novelle“ (zuvor war stets von Erzählung die Rede), deren „Bezug zum Impressionismus“ und – sollte der nicht als bekannt vorausgesetzt werden? – deren Inhalt. Das Nachzeichnen dieser frühen Rezeption ist soweit verdienstvoll, zwingend mit Blick auf das Thema „Traum/Traumpoetiken“ ist es m. E. allerdings nicht.

In den weiteren Teilen des Kapitels geht es dann um „eingerahmte Blick[e]“, im Einzelnen um die mit „Puppen, Schauspieler[n] und Masken“ bevölkerte äußere Wirklichkeit, um das Verhältnis von „Traum und Lektüre“ und um „Hautimaginationen“ im berühmten Tempeltraum. Wie die Figuren Hofmannsthals, lebe „Paul das Leben eines Ästheten“, gehe jedoch „einen anderen Weg als seine Vorgänger“:

Die unmittelbare Wirklichkeit beobachtet er mit einem aufmerksamen Auge und schwelgt kontinuierlich in Erinnerungen. Das äußere Leben erlebt Paul entweder durch sein Fenster oder auf seinen Spaziergängen, während sich die Vergangenheit intensiver in dem in Träumen Erlebten und Gelesenen zeigt. Geschaute und „gelesene“ Menschen okkupieren Pauls Blicke […].

Das Fazit zum Beer-Hofmann-Kapitel ist nur in Teilen ein solches. Der entscheidende Satz lautet hier: „Die Komplexität der persönlichen Erinnerungskultur, die nicht nur die Vergangenheit, sondern die Gegenwart des Subjekts bestätigt, realisiert sich bei Paul im Traum.“ Ansonsten stößt die Verfasserin neue Traum-Türen auf, indem sie – warum nicht zuvor im Zusammenhang mit der Analyse von Der Tod Georgs? – auf Beer-Hofmanns Reiseaufzeichnungen, sein Erinnerungsbuch Paula. Ein Fragment (posthum 1949), auf sein Trauerspiel Der Graf von Charolais (1904) und auf seine Pantomime Das goldene Pferd (entstanden 1921/22) zu sprechen kommt.

Ironischerweise ist das ca. 55 Seiten lange Kapitel über die zu den „bekanntesten und vielgelesenen Frauenstimmen ihrer Zeit“ gehörende Marie Eugenie delle Grazie das ergiebigste der Studie, ironischerweise, weil es von einer gewissen Kühnheit zeugt, die heute nahezu vergessene und von den Vertretern der Wiener Moderne nicht zu den Ihrigen gezählte Autorin in einem Atemzug mit Hofmannsthal und Beer-Hofmann zu nennen.

Ergiebig ist das Kapitel zum einen insofern, als es auf den ersten 20 Seiten mit der schmalen Forschung zu der stark von Ernst Haeckel (vgl. das Lustspiel Narren der Liebe, 1905) beeinflussten Autorin, mit Kernstücken ihrer Biographie, mit Werkphasen und dem „Schaffen der Dichterin“ sowie mit Reaktionen von Vertretern der Wiener Moderne auf sie (insbesondere Hermann Bahr) vertraut macht. Ergiebig ist das Kapitel zum anderen, weil es nachfolgend dank ausführlicher Inhaltsangaben mit nicht so ohne Weiteres greifbaren Titeln (s. o.) der Autorin vertraut macht – die ist derzeit nur mit wenigen neu aufgelegten Titeln wie Gedichte (1895), Moralische Walpurgisnacht. Ein Satyrspiel vor der Tragödie (1896), Schlagende Wetter. Drama (1899), Das Buch der Liebe. Roman (1916) und Titanic: Eine Ozean-Phantasie (1928) auf dem Markt vertreten.

Zum Dritten wartet das Kapitel mit einsichtigen Thesen zu den Texten auf: In ihren Träumen träten „die weiblichen Protagonistinnen ihren dunklen Trieben gegenüber.“ Im Unterschied zu den von delle Grazie entworfenen männlichen Figuren, die eine „doppelte Sexualmoral“ auslebten, versuchten die Protagonistinnen selbst in ihren Träumen, „sich ihren Trieben und Wünsche [sic!] zu widersetzen“.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass es der Studie ganz unabhängig von Inhaltlichem und Gehaltlichem gutgetan hätte, wäre sie vor der Drucklegung noch einmal gründlich lektoriert worden. Zahlreiche Tippfehler, zweifelhafte Interpunktionsgewohnheiten (Kommata), einen uneinheitlichen Umgang mit doppelten Anführungszeichen, unstimmige Satzgefüge und ungewohnte Verbverwendungen und Verb-Präposition-Verbindungen muss man nicht auf die Goldwaage legen. Anders verhält es sich, wenn Zitate – beispielsweise im Fall von Beer-Hofmann – reihenweise Tippfehler aufweisen, die obendrein zum Teil sinnentstellend sind. Auch sollten Zitatnachweise in jedem Fall eindeutige Belege liefern, was in der vorliegenden Arbeit zuweilen leider nicht der Fall ist. Schließlich ist es zumindest unschön, wenn im Literaturverzeichnis – auch hier sei Beer-Hofmann das Beispiel – mal (mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht eingesehene) Erstausgaben und mal Neuauflagen (ohne Angabe zu den Erstauflagen) aufgelistet und beispielsweise Herausgebernamen falsch geschrieben werden. Unbefriedigend ist es weiterhin, dass die bibliographischen Angaben zum Teil nicht vollständig (bspw. Jahreszahlen) oder schlicht falsch (bspw. Seitenangaben) sind.

Titelbild

Irma Duraković: TraumLeben. Traumpoetiken der Wiener Moderne.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2023.
236 Seiten , 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783826077012

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