Was macht ein Leben erzählenswert?

Martin Reulecke sammelt in „Die Seele ist da, wo sie liebt!“ Spuren aus dem Leben von Lotte Michaelis

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was trägt dazu bei, dass ein Leben über die Bewahrung der Erinnerung von Freunden, Bekannten und Verwandten hinaus, im kollektiven Gedächtnis gespeichert wird? Gründe hierfür gibt es viele: Von besonderen politischen oder sozialen Leistungen, über ein künstlerisches Werk bis hin zur Partizipation an einer historisch wichtigen Entwicklung oder einem zufälligen Aufenthalt an einem Ort, an dem sich ein historisch-politischer Wandel vollzieht. Darüber hinaus hat die Alltagsgeschichtsschreibung in den vergangenen Jahrzehnten alltägliche Menschen und ihre Erfahrungen immer wieder ins Blickfeld gerückt, um an ihnen exemplarisch die Erfahrungen einer Generation oder Epoche herauszustellen. Hier ist der Einzelne gerade nicht aufgrund seiner besonderen Leistung, sondern aufgrund seiner Durchschnittlichkeit gefragt. Von besonderer Bedeutung sind aber auch hier Personen, die viele Quellen hinterlassen haben oder von denen viele Schriftstücken berichten, sodass ihr Leben beispielhaft für bestimmte historische Erfahrungen herangezogen werden kann. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass eine Persönlichkeit in einem Umfeld lebte, das eine gewisse Aufmerksamkeit generiert. Wer würde sich heute noch für Cornelia Goethe interessieren, wenn sie nicht die Schwester eines des bedeutenden deutschen Dichters gewesen wäre?

Und so kann man auch in Hinblick auf Lotte Michaelis fragen: Wer würde sich heute noch für sie interessieren, wäre sie nicht die jüngere Schwester von Caroline Böhmer-Schlegel-Schelling? Caroline hat nicht nur im Zentrum der Jenaer Romantik gelebt, sondern auch durch ihre Heirat mit dem Philosophen Schelling an einem Wendepunkt der deutschen Geistesgeschichte teilgehabt. Beide Lebensepochen der Schwester hat Lotte Michaelis nicht mehr miterlebt. Sie starb kurz nach der Endbindung von ihrer Tochter Charlotte Cecilie Dietrich am 2. April 1793 im Kindbett. Zu diesem Zeitpunkt war Caroline selbst bereits Witwe und musste den Tod zweier Kinder verschmerzen.

Aber vielleicht tun wir dem Autor Martin Reulecke mit dieser Einschätzung unrecht, weist er doch auf den ersten Seiten des Bandes Die Seele ist da, wo sie liebt! Lotte Michaelis – Spuren ihres Lebens darauf hin, dass die mit 26 Jahren Verstorbene „Spuren in der deutschen Kulturgeschichte hinterlassen“ habe. Diesen geht der promovierte Rechtsphilosoph und Geschäftsführende Direktor am Theater Gießen in seiner aktuellen Publikation nach.

Im ersten Teil des schmalen Bändchens erzählt Reulecke anhand der wenigen Zeugnisse das kurze Leben von Lotte Michaelis nach. Hier begegnen den Leserinnen und Lesern bekannte Frauen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Mit Therese Heyne, der späteren Frau  des Weltreisenden und Revolutionärs Georg Forster, war Lotte zumindest zeitweise gut befreundet. Auch mit Elise Bürger, der Frau des Dichters Gottfried August Bürger, pflegte Lotte einige Zeit freundschaftlichen Umgang. Selbst die bekannte Autorin Sophie von La Roche hatte die junge Frau in ihr Herz geschlossen und setzte sich dafür ein, dass sie mit der Schriftstellerin Elisa von der Recke auf Reisen gehen konnte, was allerdings am Einspruch von Lottes Eltern scheiterte. In La Roches spätem autobiographischen Text Mein Schreibetisch wird ein autobiographischer Text Lottes erwähnt, der allerdings nicht überliefert ist. Daneben gibt es einige wenig erfolgreiche Liebschaften wie die zu dem Schriftsteller August von Kotzebue oder dem Arzt und Naturwissenschaftler Samuel Thomas Soemmering, die in den Quellen erwähnt sind.

Ihr Herz scheint Lotte in jungen Jahren schnell verschenkt zu haben – wie Reulecke andeutet, könnte darin auch der Bruch mit ihren Freundinnen begründet sein, denn es galt die Standesehre der jungen Frauen zu wahren. Alles in allem kann man sich in diesem ersten Teil des Eindrucks nicht erwehren, dass viel Klatsch und Tratsch ausgewertet wurde – ob diese Quellen einen guten Eindruck vom Charakter der jungen Frau geben, müssen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden. Interessanterweise wurde die einzige biographische Station, die scheinbar gut dokumentiert ist, nur am Rande herangezogen: der Disput zwischen Medizinprofessor und Hebamme um den Tod der jungen Mutter im Kindbett. Als Gewährsmann für die letzten Tage der jungen Frau wird hingegen mit kurzen Notaten aus seinen Tagebüchern Georg Christoph Lichtenberg herangezogen, der im gleichen Haus wie die Familie Dietrich lebte. Auch sein Spott in einem Sudelbucheintrag über den falsch beschrifteten Grabstein wird zitiert.

Bei den ausgewerteten Quellen handelt es sich neben dem Grabstein und einigen Stichen, vor allem um die im zweiten Teil des Bandes abgedruckten Briefe. Davon sind lediglich zwei Briefe von Lotte Michaelis überliefert – je einer an ihre Schwestern Caroline und Louise. Die übrigen 39 teilweise nur in Auszügen abgedruckten Briefe stammen aus der Feder von Caroline Böhmer und sind an ihre jüngere Schwester gerichtet. Diese bereits an anderer Stelle publizierten Briefe sind überaus spannend zu lesen. Sie geben Einblicke in Carolines Alltag. Dabei sind es vier Themen, die immer wieder auftauchen: Neben Ermahnungen der älteren Schwester, die sich um die jüngere und deren Ansehen sorgt, finden sich viele Bitten um Literatur und Alltagsgegenstände, die Caroline in Clausthal im Oberharz scheinbar nicht bekommen kann. Immer wieder gibt es mehr oder weniger detaillierte Lektürebeschreibungen, die von theologischen bzw. philosophischen Texten von Herder und Jacobi über Johann Carl Wezels komische Romane bis hin zu Christian Garves Streitschrift gegen Friedrich Nicolai reichen. Sehr ausführlich werden darüber hinaus Begegnungen und alltägliche Ereignisse beschrieben, um die entfernt lebende Schwester am eigenen Alltag teilnehmen zu lassen. So sind die Briefe als sozialhistorische Quelle zu lesen, die aber mehr über die schreibende, als über die adressierte Schwester aussagen. Dabei entbehren die Briefe Carolines nicht eines ganz eigenen Witzes, wenn sie sich beispielsweise über das Ausbleiben von Literatur beschwert:

Meisterin brodloser Künste – unholdiger Geist, ich beschwöre Dich, schick mir keine Uhrbänder, sondern diesmal etwas zu lesen in gothischen Buchstaben. Ich bitte Dich um Brod, und du giebest mir Stein. Wie kan ich lachen? […] Du must mir andre Kost auftischen. Versteh, Du solst mir was aus dem Buchladen schicken, und künftige Woche komt der ganze Braß mit eins zurück.

Auch bemüht sie sich immer wieder, ihrer Schwester deutlich zu machen, dass ihre Ermahnungen aus echter Sorge um das Glück der Jüngeren erwachsen und sie diese nicht unnötig zurechtweisen möchte:

aber weil ich weiß, wie leicht es ist mit sehenden Augen blind zu seyn, so warne ich Dich so oft, meine liebe Schwester, welches du mir nicht übel nehmen mußt; das würde nichts helfen, ich laße nicht ab Dich zu errinren, so lange Dein Schicksaal unsicher ist. Quälen will ich Dich nicht, nur möchte ich wohl, daß Dir Deine Freuden dann und wann ein wenig zittrig schmekten, damit die Sicherheit des Genußes Dich nicht zu weit führe. Misfallen habe ich ja weiter gar nicht geäußert. Nimm Dich nur ja immer vor der argen Welt in Acht;

Viel ist es nicht, was vom Leben der Lotte Michaelis überliefert ist. Statt von Spuren sollte man wohl eher von einem Spürchen sprechen. Aus vielen Quellen spricht eher eine Lust an Unterhaltung und nicht an objektiver Beschreibung der Ereignisse oder Personen. Auch in den Briefen von Caroline an ihre jüngere Schwester befinden sich viele Alltagsbeschreibungen und unwichtige Beobachtungen, die mehr dazu dienen, ein Gefühl der Nähe entstehen zu lassen, als dass sie von historischer Bedeutung sind. Und so muss die Leserin am Ende enttäuscht feststellen: Es ist zu wenig, um sich von der der jung verstorbenen Lotte Dietrich, geborene Michaelis, selbst ein Bild machen zu können.

Titelbild

Martin Reulecke: »Die Seele ist da, wo sie liebt!«. Lotte Michaelis Spuren ihres Lebens.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2023.
120 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783826078552

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