Unsere Denkmäler in der Ukraine
Ein deutsch-ukrainisches Kulturprojekt erinnert an eine Vergangenheit, in der die deutsche Sprache zur Westukraine gehörte wie Butter zum Weizenbrot
Von Rainer Bieling
„In dieser Zeit, in der viele Kulturgüter der Ukraine durch den von Russland entfesselten sinnlosen Krieg bedroht sind und zerstört werden, hoffen wir, dass unsere Denkmäler unversehrt bleiben und für eine friedliche Zukunft stehen.“ Mit diesem Satz endet der Dokumentationsband Bukowinisch-Galizische Literaturstraße von Helga von Loewenich und Petro Rychlo. „In dieser Zeit“, das ist der Winter 2023, und „unsere Denkmäler“ sind die von den beiden initiierten Denkmäler deutschsprachiger Dichter und Schriftsteller, die erst seit wenigen Jahren in deren Geburtsorten in der westlichen Ukraine stehen.
In der ukrainischen Bevölkerung ist weitgehend unbekannt, dass auf dem Gebiet ihres Landes einst abertausende Bürger Deutsch sprachen, in der deutschen Bevölkerung ist spiegelbildlich unbekannt, dass auf dem Gebiet der heutigen Ukraine einst Bürger deutscher Muttersprache lebten und Poesie und Prosa von Weltrang schrieben. Was heute Regionen der Westukraine sind, waren bis 1918 Kronländer der Habsburgermonarchie – in den Städten Galiziens und der Bukowina sprachen österreichische Beamte und jüdische Bildungsbürger Deutsch. Die Erinnerung an diese deutschsprachige Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen, war und ist das Anliegen einer deutsch-ukrainischen Zwei-Personen-Bürgerinitiative, bestehend aus Helga von Loewenich aus Berlin-Friedenau in Deutschland und Petro Rychlo aus Czernowitz in der Ukraine.
Am 19. Januar 2023 stellten sie ihre Dokumentation zu einem deutsch-ukrainischen Kulturprojekt erstmals in gedruckter Form vor. Die Buchpremiere fand in der literarischen Buchhandlung „Der Zauberberg“ in Friedenau statt (Foto siehe Anhang), dem Stadtviertel, in dem die Künstlerin Helga von Loewenich wohnt – seit langem mit Aquarellen, Collagen und Farbmalerei „im bildnerischen Dialog mit Werken der Dichtung, vor allem der Bukowiner Lyriker“. Der Wissenschaftler Petro Rychlo, Professor für fremdsprachige Literatur an der Nationalen Jurij Fedkowicz Universität Czernowitz und Übersetzer des Werkes von Paul Celan ins Ukrainische, war 26 Stunden im Zug aus Czernowitz angereist, die ersten Exemplare des gemeinsamen Buches Bukowinisch-Galizische Literaturstraße im Gepäck.
Auch das ist deutsch-ukrainisch an diesem Kulturprojekt: Es ist ein ukrainisches Buch in deutscher Sprache – verlegt in Czernowitz, gedruckt in und während des russischen Raketenhagels auf Charkiw, geschrieben von den beiden Initiatoren der insgesamt elf Denkmäler des Projekts, die mittlerweile in der Westukraine stehen, noch jedenfalls. Das elfte Denkmal ließ sich wegen des seit 2022 anhaltenden Krieges des russischen Staates gegen die Bürger der Ukraine und ihre Lebensgrundlagen erst nach dem Erscheinen des Buches errichten.
Und Lebensgrundlagen sind Essen und Trinken, Wohnen und Schlafen, Wärme und Wasser ebenso wie Sprache und Wissen, Lernen und Spielen, Kultur und Erinnerung. Das deutsch-ukrainische Kulturprojekt beabsichtigt beides: sowohl physische Erinnerung als auch mentale. Und so ist die „Bukowinisch-Galizische Literaturstraße“ beides: eine physische Literaturstraße, die sich bereisen lässt, mit physischen Denkmälern, die sich begucken und auch anfassen lassen, und eine mentale Literaturstraße, die sich gedanklich erfassen und in Buchform auch begreifen lässt.
Dieser Doppelcharakter macht den Reiz der „Bukowinisch-Galizischen Literaturstraße“ aus, erlaubt er es doch, zwei Zielgruppen gleichzeitig anzusprechen: Bürger in der Ukraine, für die es eine Entdeckung ist, einer deutschsprachigen literarischen Vergangenheit in der Ukraine zu begegnen, und Bürger in Deutschland, die weder über die Ukraine Bescheid wissen noch über das Deutsche, das einmal zu ihr gehört hatte. Einige Namen zum Selbsttest: Alexander Granach, Karl Emil Franzos, Soma Morgenstern, Hermann Kesten, Salcia Landmann, Manès Sperber. Wer kennt sie? Wer weiß mehr als den Namen? Wem ist bewusst, dass sie alle, würden sie heute geboren, Bürger der Ukraine wären? Ebenso wie Paul Celan, Rose Ausländer, Joseph Roth oder Gregor von Rezzori, deren Denkmäler jetzt ebenfalls in der Ukraine stehen, noch jedenfalls.
Würden sie von russischen Raketen, Bomben oder Granaten zerstört, wäre es – nach der physischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in der Shoa – schon die zweite Auslöschung der Erinnerung; die erste war die Auslöschung der Erinnerung an die Shoa in der Sowjetukraine seit 1944, dem Jahr der Rückeroberung durch die Rote Armee, bis 1991, dem Jahr der staatlichen Trennung von Sowjetrussland. In diesen 47 Jahren sozialistischer Herrschaft war es für die Bürger der Ukraine die längste Zeit tabu, über die Shoa zu sprechen, gar zu forschen, und es war ein Makel, selbst jüdisch zu sein, gar die Shoa überlebt zu haben. Das von Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman in der Endphase des Krieges vorbereitete und seit 1945 heftig angefeindete Schwarzbuch über den Genozid an den sowjetischen Juden wurde 1947 endgültig verboten und blieb ungedruckt. Was in Deutschland als Holocaustleugnung gilt, galt in der Sowjetunion seither als Staatsraison. Und so kam es, dass die ersten beiden Denkmäler, die an jüdische Bürger deutscher Muttersprache in der Ukraine erinnern, erst nach der Unabhängigkeit von Sowjetrussland seit 1992 in der Bukowina (in Czernowitz für Paul Celan) und seit 1998 in Galizien (in Zablotow für Manès Sperber) in den jeweiligen Geburtsorten der Geehrten stehen, noch jedenfalls.
Es war dieses fast ein halbes Jahrhundert währende sowjet-sozialistische Verdrängen und Beschweigen des in der Shoa vernichteten jüdischen Erbes der Ukraine, das ein weiteres Vierteljahrhundert nach dem kurzen Aufflackern der Erinnerung und der Errichtung der beiden Denkmäler in den 1990er-Jahren nachwirkt, das Helga von Loewenich und Petro Rychlo zu ihrem deutsch-ukrainischen Kulturprojekt veranlasste. 2016 stellten sie in Butschatsch in Galizien ihr erstes Denkmal auf die Beine, sprich eine bronzene Büste auf einen granitenen Sockel. Die Büste zeigt den bisher noch nicht erwähnten Samuel Josef Agnon, einen der zwei deutschsprachigen Schriftsteller des Kulturprojekts „Bukowinisch-Galizische Literaturstraße“, die nach ihrer Emigration nach Palästina von ihrer Muttersprache Deutsch in ihre neue Heimatsprache Hebräisch wechselten. Der zweite ist Aharon Appelfeld, dessen bronzene Büste seit Oktober 2021 in Stara Jadova in der Bukowina auf einem Granitsockel steht.
Die übrigen elf der insgesamt 13 mit einem Denkmal auf der Literaturstraße Erinnerten haben ihr Leben lang auf Deutsch geschrieben. Gregor von Rezzori ist als einziger italienisch-katholischer Herkunft, die übrigen zwölf sind deutsch-jüdischer Herkunft. Von den zwölf deutsch-jüdischen Muttersprachlern haben zehn die Judenverfolgung und die Shoa im Exil oder im (vorher gewählten) Ausland überlebt, einer war zu alt, um Verfolgung und Vernichtung überhaupt zu erleben (Karl Emil Franzos, gestorben bereits 1904 in Berlin), und eine hat in der Shoa ihr Leben verloren: Selma Meerbaum-Eisinger. Sie starb am 16. Dezember 1942 im Zwangsarbeitslager Michailowka in Transnistrien. Da war sie gerade einmal 18 Jahre alt. Bis zum Tag der Berliner Buchpremiere stand ihr Denkmal, es sollte das 13. auf der Literaturstraße sein, nicht in ihrem Geburtsort Czernowitz.
Unser letztes Projekt sah vor, dass die junge Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger als kleine Vollfigur gestaltet werden sollte. Bereits 2021 hat der Bildhauer Wolodymyr Cisaryk das Bronzedenkmal des Czernowitzer Mädchens fertig gestellt. Die Figur ist so geformt, dass die junge Dichterin das Album mit ihren Gedichten als ihr poetisches Vermächtnis an die Brust drückt. Unten auf der bronzenen Platte sind Worte eingraviert, die sie in einem ihrer letzten Gedichte mit einem roten Stift hinzugefügt hatte: ‚Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben …’ Wegen des plötzlichen und brutalen Überfalls Russlands auf die Ukraine wurden unsere Pläne einer baldigen Enthüllung zunichte gemacht. Die Figur wartet bis heute [Januar 2023] in der Werkstatt des Künstlers in Lwiw, um auf einem geeigneten Platz in Czernowitz aufgestellt zu werden.
Das schreiben Helga von Loewenich und Petro Rychlo am Ende ihrer „Einführung“ in das Buch Bukowinisch-Galizische Literaturstraße.
Bei ihrer zweiten Berliner Buchvorstellung am 18. Juli 2023 im traditionsreichen „Buchhändlerkeller“ in der Carmerstraße in Charlottenburg (Foto siehe Anhang) dann die gute Nachricht: Seit der festlichen Enthüllung am 7. Mai 2023 steht das Bronzedenkmal von Selma Meerbaum-Eisinger nun doch in ihrer Heimatstadt. Dieses Mal war es Helga von Loewenich, die 48 Stunden mit dem Zug von Berlin über Krakau und Lemberg nach Czernowitz reiste, um bei dem Festakt dabei zu sein, Bomben hin, Drohnen her. Sie wurde von ihren Friedenauer Freunden und Bekannten eingehend gewarnt, sich auf die gefährliche Reise zu begeben. Davon unbeeindruckt bestieg sie den Zug und nahm am Festakt zur Einweihung des 13. und letzten Denkmals teil. Von diesem erfolgreichen Abschluss ihres Projekts konnten die beiden Autoren bei ihrer zweiten Buchvorstellung berichten und sie mit Bildern dokumentieren, die es in dem Buch Bukowinisch-Galizische Literaturstraße noch nicht gibt.
Das Buch ist so gestaltet, dass es sich als Reiseführer auf die Literaturstraße mitnehmen lässt. Beginnend im Süden der Westukraine, in Czernowitz in der Bukowina, schlängelt sich die Route kurvenreich gen Norden nach Brody in Galizien, dem Geburtsort von Joseph Roth. Die Buchkapitel folgen der Literaturstraße oder gehen ihr voran – jedenfalls aus Sicht derjenigen, die sich eines Tages erst auf den Weg machen wollen; denn eine Besuchsreise mit dem Auto, reine Fahrzeit 11 Stunden und 12 Minuten „ohne Verkehr“, wie Google Maps für die 663 km lange Strecke ermittelt (Karte siehe Anhang), oder mit dem Bus oder der Bahn (ja, sogar eine Radtour wäre denkbar) verbietet sich angesichts des Krieges von selbst. Aber dann! Wenn es den Bürgern der Ukraine gelingt, sich des Angriffs des russischen Staates gegen sie und ihre Lebensgrundlagen erfolgreich zu erwehren, wird Kulturtourismus helfen, die Lebensgrundlagen zumindest eines Teils jener Bevölkerung wiederherzustellen, der entlang der Literaturstraße für Bewirtung und Unterkunft sorgt.
Die Buchkapitel sind jeweils dreiteilig. Zuerst die Ortsbeschreibung, dann das biografische Porträt mitsamt Angaben zum und Fotos vom Denkmal und dessen Einweihung, schließlich die Leseprobe mit Gedichten oder Texten, die einen autobiografischen Bezug zum Ort oder zur Gegend haben. Es sind diese Originaltöne, die einem nicht nur Dichter und Schriftsteller nahebringen, von denen nie ein Wort je zum schulischen Lesestoff gehörte. Sie lassen einem auch jene unbekannten Landschaften ans Herz wachsen, die es als Geografie noch gibt, nicht mehr aber als Kulturlandschaft, in der die deutsche Sprache eine Selbstverständlichkeit hatte, die sie achtzig Jahre später in Neukölln oder anderswo mitten in Deutschland nicht mehr hat. Rose Ausländers Erinnerungen an eine Stadt, es ist das Czernowitz ihrer Jugend, tun weh zu lesen, weil sie den Kontrast zwischen damals und heute schmerzlich verdeutlichen und mit jeder Zeile erinnern, welche quirlige intellektuelle und kulturelle Brillanz die Shoa so unwiderruflich wie ersatzlos vernichtet hat.
Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, ist Ausgangpunkt der Literaturstraße und als Großstadt zugleich der einzige Ort, an dem das Buch gleich vier Dichter und Schriftsteller würdigt: Paul Celan, Rose Ausländer, Gregor von Rezzori und Selma Meerbaum-Eisinger. Von dort geht es nach Stara Jadova, dem zweiten und zugleich letzten Ort in der Bukowina, wo Aharon Appelfeld die ersten acht Jahre seines Lebens verbrachte, bevor er 1941 in einem transnistrischen Zwangsarbeitslager landete, aber nicht endete. Als Neunjährigem gelang ihm die Flucht, bis Kriegsende konnte er sich in den Buchenwäldern, denen die Bukowina ihren Namen verdankt, verstecken und überleben. Mit gerade einmal 14 Jahren schaffte er 1946 die illegale Einreise nach Palästina. Später in Israel schrieb er in seiner neuen Heimatsprache Hebräisch. Seit Oktober 2021 steht sein Denkmal vor dem Gymnasium von Stara Jadova.
Das nächste Kapitel des Buches folgt der Literaturstraße Richtung Norden nach Zablotow, dem ersten Ort in Galizien, wo auf Initiative der Gemeinde bereits seit August 1998 ein Denkmal für Manès Sperber steht. Dessen Familie flüchtete 1916, da war er gerade 11 Jahre alt, vor den Kriegswirren nach Wien. Von Zablotow aus ist es nicht weit nach Werbiwci, wo seit Ende Oktober 2021 das letzte Denkmal, das Helga von Loewenich und Petro Rychlo im Rahmen ihres Kulturprojektes „Bukowinisch-Galizische Literaturstraße“ bis zur Drucklegung des Buches errichten lassen konnten, Alexander Granach zeigt. In erster Linie Schauspieler, konnte er auch wunderbar schreiben, wie ein Auszug aus seinem autobiografischen Roman Da geht ein Mensch belegt.
Weiter nördlich liegt Butschatsch, der Geburtsort von Samuel Josef Agnon, die nächste Station auf der Literaturstraße. Agnon war schon 1907, mit 19 Jahren, nach Palästina gegangen, um zwischendurch doch wieder jahrelang in Deutschland zu leben und 1930 noch einmal seine alte Heimat Galizien zu besuchen. Die Reise fand einen Niederschlag in dem erst spät, 1964, vom Hebräischen, seiner neuen Heimatsprache in Israel, ins Deutsche übersetzten Roman Nur wie ein Gast zur Nacht; ein Auszug rundet das Kapitel fünf ab und lässt erkennen, warum Samuel Josef Agnon 1966 den Literaturnobelpreis erhielt – als hebräischer Schriftsteller.
Als deutschsprachiger Schriftsteller sah sich zeitlebens Karl Emil Franzos, aus dessen Biographischen Selbstzeugnissen das nächste Kapitel ausgiebig zitiert: „Ich war ein Deutscher und ein Jude zugleich.“ Die Station auf der Literaturstraße ist das galizische Städtchen Czortkow, seit April 2017 steht hier ein Denkmal des 1887 nach Berlin übergesiedelten und 1904 auf dem jüdischen Friedhof Weißensee begrabenen Karl Emil Franzos. Von Czortkow geht es weiter nach Budaniw, wo seit Mai 2019 eine Bronzebüste an Soma Morgenstern erinnert. 1890 als Salomo geboren, ist er der einzige Geehrte, dessen Kindheitssprache Jiddisch war. Hochdeutsch als seine künftige Literatursprache lernte er erst nach Polnisch und Ukrainisch, den beiden anderen Sprachen seiner Kindheitsumgebung in der Kleinstadt.
Hermann Kesten wird in älteren Nachschlagwerken häufig als deutscher Schriftsteller aus Nürnberg verortet. Tatsächlich stammt er aus Podwolotschysk in Galizien, der nächsten Station der Literaturstraße. Seit Mai 2018 steht hier, wo er die ersten vier Lebensjahre verbracht hat, sein Denkmal. Erst 1904 zog der Vater, ein wohlhabender Kaufmann, mit seiner Familie nach Nürnberg, und es sollte nicht der letzte Lebensmittelpunkt für Hermann Kesten bleiben. 1933 floh er rechtzeitig nach Frankreich und 1940 auf den letzten Drücker in die USA.
Von Podwolotschysk führt ein langer Weg nord-westwärts an Lwiw, dem einstigen Lemberg vorbei nach Schowkwa, wo Galizien bald an Polen grenzt. Hier steht seit dem Juni 2021 eine bronzene Büste zur Erinnerung an die 1911 in Schowkwa geborene Salcia Landmann, die dritte Frau neben den zehn männlichen Protagonisten der Literaturstraße. Das ihr gewidmete Kapitel skizziert eine Schriftstellerin, die zwar schon als Kind, gleich nach dem Ersten Weltkrieg, in die Schweiz übersiedelte, ihrer galizischen Heimat jedoch ein literarisches Denkmal ersten Ranges setzte, nicht nur mit ihren populären Büchern über den jüdischen Witz und die jüdische Küche, sondern vor allem mit ihrem Erinnerungsbuch Mein Galizien. Das Land hinter den Karpaten, dessen wichtigster Schauplatz Schowkwa ist, wie die Leseprobe anschaulich belegt, mit der dieses vorletzte Buchkapitel endet.
Zum Erreichen der letzten Station der „Bukowinisch-Galizische Literaturstraße“ führt die Route geradewegs rückwärts gen Osten nach Brody. Hier hatten Helga von Loewenich und Petro Rychlo wie in Schowkwa mit ihrem deutsch-ukrainischen Kulturprojekt einige Mühe. Dabei hat Joseph Roth, um dessen Denkmal es ging, in seiner Heimatstadt Brody seine gesamte Kindheit und Jugend verbracht, ehe er 1913 zum Studium nach Lemberg ging. Nach einem „gewissen Widerstand“ der städtischen Behörden steht jedoch seit August 2019 eine bronzene Büste von Joseph Roth auf einem Granitsockel vor dem einstigen K.u.k.-Gymnasium, an dem er seine Matura abgelegt hatte.
Der behördliche Widerstand am nördlichen Ende der Literaturstraße war für die Initiatoren überraschend und unverständlich. War das allererste der elf neuen Denkmäler, das im Juni 2016 errichtete für Samuel Josef Agnon in Butschatsch, noch vollständig aus privaten Spendengeldern einer Regensburger Stifterfamilie finanziert worden, beteiligt sich das Auswärtige Amt (AA) seit dem zweiten, im April 2017 für Karl Emil Franzos in Czortkow errichteten Denkmal an den Kosten. Eine Entscheidung des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier, der es sich nicht nehmen ließ, nunmehr als Präsident der Bundesrepublik Deutschland ein sehr persönliches „Vorwort“ zum Buch zu schreiben. Es schließt mit den Worten:
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine empört uns alle, das unermessliche Leid, das diese brutale Aggression über die Menschen in der Ukraine bringt, erschüttert uns. Als deutscher Bundespräsident möchte ich Ihnen allen in der Ukraine versichern, dass wir fest und unverbrüchlich an Ihrer Seite stehen. Den Initiatoren der Bukowinisch-Galizischen Literaturstraße wünsche ich aus tiefstem Herzen, dass in nicht allzu ferner Zukunft wieder Besucher und Studienreisende in die Westukraine kommen können, um auf den Spuren der deutsch-jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu wandeln und diese entschwundene Welt wieder zu entdecken. Und ich freue mich sehr auf den Tag, an dem ich selbst zu Ihnen nach Czernowitz kommen kann.
Frank-Walter Steinmeiers Mitarbeiter zu AA-Zeiten und in den Anfängen zuständiger Beamter für die Betreuung des deutsch-ukrainischen Kulturprojekts war Felix Klein, seit 2018 „Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus“. An behördlicher Rückendeckung deutscherseits mangelte es also nie, wie Helga von Loewenich und Petro Rychlo in ihrer „Danksagung“ am Ende des Buches unter Namennennung weiterer Beteiligter betonen. Und so war es schließlich der russische Angriffskrieg, der die Aufstellung des elften und letzten Denkmals bis zum 7. Mai 2023 verhinderte.
Dass die beiden Chronisten des von ihnen selbst betriebenen Projekts gerade zum Anfang des Jahres 2023, da sich der Kriegsbeginn erstmals jährte, eine Dokumentation ihres Engagements in Buchform und auf Deutsch vorlegen wollten, wirkt noch heute, im Sommer 2023, wie ein Impuls der Ermutigung: Schaut her, die Ukraine ist nicht ein fernes, fremdes Land, mit dem euch nichts verbindet, sondern sie war einmal Heimat von Bürgern, die so selbstverständlich deutsch sprachen und schrieben wie Dichter und Schriftsteller in Wien und Berlin, und sie beheimatet ihre einstigen deutschen Muttersprachler erneut durch Zeichen der Erinnerung in der Ukraine – für die ukrainischen Einwohner und für deutsche Besucher gleichermaßen.
Diese Komponente der Verbindung zwischen den heutigen Bürgern der Ukraine und den heutigen deutschen Bürgern zu verdeutlichen, war der Anlass, die Dokumentation zu einem deutsch-ukrainischen Kulturprojekt gleich im Januar 2023 zu veröffentlichen, obwohl die „Bukowinisch-Galizische Literaturstraße“ als Projekt noch unvollendet war. Den künftigen Besuch der Stätten des gemeinsamen literarischen Erbes schon hoffnungsvoll vor Augen, beschreiben Helga von Loewenich und Petro Rychlo das Anliegen so:
Der Titel unseres Projekts ist ‚topographisch’ geprägt, und das hat besondere Gründe: Es geht nicht nur darum, der einheimischen Bevölkerung ihre berühmten Landsleute durch Denkmäler ins Gedächtnis zu rufen, sondern auch darum, ihre Namen für die literaturinteressierte Öffentlichkeit wiederzuentdecken. Wenn man eine ausführliche Landkarte der Westukraine auffaltet, so merkt man bald, dass die Geburts- und Herkunftsorte all dieser Schriftsteller, die relativ nah beieinanderliegen, eine willkommene, leicht erreichbare Route bilden, die vor Stara Jadova in der Bukowina beginnt und sich dann über […] galizische Orte […] bis Brody hinzieht.
Die Topographie der Literatur, die eine Süd-Nord-Route durch die alten österreichischen Kronlande Bukowina und Galizien nahelegt, erlaubt den beiden Chronisten eine werbewirksame und zugleich reisefreundliche Herangehensweise. Beginnend in Czernowitz und endend in Brody lässt sich mit den zwei in Deutschland bekanntesten Namen beginnen und schließen: mit Paul Celan als Aufmacher und mit Joseph Roth als Schlussakzent. Beide verbindet überdies das Exil in Frankreich und das Grab in Paris – die „Bukowinisch-Galizische Literaturstraße“ erweist sich gleich hier als eine Startbahn: die Landung findet stets anderswo statt. Und das führt zum Reisefreundlichen: mit Easy Jet nach Czernowitz war es vor dem Krieg nur ein Katzensprung, und zurück von Lemberg/Lwiw, das anderthalb Autostunden von Brody entfernt liegt, wird es nach dem Krieg wieder ein Leichtes sein, nach Deutschland zurückzufliegen.
Wenn die Denkmäler dann noch stehen. Wenn es den Bürgern der Ukraine gelingt, ihre Unabhängigkeit von Russland erfolgreich zu verteidigen; denn nur dann wird die Erinnerung an eine Vergangenheit, in der die deutsche Sprache zur Westukraine gehörte wie Butter zum Weizenbrot, zur bleibenden Erinnerung. Dass die „literaturinteressierte Öffentlichkeit“ für dieses Verbindende ansprechbar ist, zeigte schon die Buchpremiere am 19. Januar 2023: So voll war der Friedenauer „Zauberberg“ noch nie! Und die zweite Präsentation im Charlottenburger „Buchhändlerkeller“ am 18. Juli 2023 vor vollem Haus bestätigte: Die Anteilnahme ist ungebrochen!
Nun wird es darauf ankommen, dass es dem Verlag „Knyhy XXI“ (zu deutsch: „Bücher XXI“) aus Czernowitz gelingt, genug Exemplare der Dokumentation von Helga von Loewenich und Petro Rychlo aus der bombardierten Druckerei in Charkiw nach Deutschland zu spedieren. Die Verbreitung des Buches hierzulande ist nicht zuletzt deshalb so wünschenswert, weil es fehlendes Wissen liefert, Unkenntnis beseitigt, Verbindendes herausstellt und so den Mangel an Empathie zu lindern hilft. Den Bürgern der Ukraine kann es nur nützen, seitens deutscher Bildungsbürger künftig mehr verbale Unterstützung zu erfahren, sind diese doch eine wichtige Stimme im Chor der öffentlichen Meinung hierzulande.
ANHANG
Informationen zum gedruckten Buch
Bukowinisch-Galizische Literaturstraße. Dokumentation zu einem deutsch-ukrainischen Kulturprojekt. Von Helga von Loewenich und Petro Rychlo. Verlag Knyhy XXI, Czernowitz 2022. Printed in Ukraine. 288 Seiten.
Das Buch kostet 20 €; vom Verkaufserlös gehen 5 € als Spende an das Aharon-Appelfeld-Gymnasium in Stara Jadova in der Bukowina, vor dem seit Oktober 2021 auch ein Denkmal an Aharon Appelfeld erinnert.
Der Band ist bisher nur in der Berliner Buchhandlung „Der Zauberberg“ und sonst nirgends im stationären Buchhandel erhältlich. Eine Online-Bestellung zuzüglich Versandkosten ist ebenfalls bei dieser Buchhandlung für alle Nicht-Berliner per Email möglich: info@der-zauberberg.eu
Bukowinisch-Galizische Literaturstraße
Die Website zum deutsch-ukrainischen Kulturprojekt: http://www.bukgalstrasse.com/
Die Literaturstraße der Website unterscheidet sich in einer Person und folglich in einem Ort von der des Buches: Statt Aharon Appelfeld aus Stara Jadova, Bukowina, wird Eugenie („Genia“) Schwarzwald, gebürtige Nussbaum (4.7.1872 bis 7.8.1940) aus Polupanówka bei Scalat, Galizien, gewürdigt.
Die Route der „Bukowinisch-Galizischen Literaturstraße“
Von Czernowitz im Süden nach Brody im Norden:

Foto Buchumschlag
Foto Buchpremiere am 19. Januar 2023
Foto zweite Buchvorstellung am 18. Juli 2023
Foto Projekt- und Buchpräsentation am 14. September 2023