Zwischen Humanismus und Verzweiflung
Hans Joachim Schädlichs „Das Tier, das man Mensch nennt“ versammelt 48 literarische Miniaturen zu einer kleinen Weltgeschichte der menschlichen Niedertracht
Von Dietmar Jacobsen
48 Prosastücke – das kürzeste sechs Zeilen, das längste 15 Seiten lang – enthält Hans Joachim Schädlichs neuer Erzählband Das Tier, das man Mensch nennt. In ihnen begibt sich der 1935 in Reichenbach/ Vogtland geborene Autor auf eine Tour des Schreckens. Sie führt an mittelalterlichen Scheiterhaufen vorbei in Stalins Folterkeller, deutsche Konzentrationslager, zerrüttete menschliche Beziehungen sowie in die Köpfe von Menschen, für die Empathie und Humanität keine Werte mehr darstellen, nach denen zu leben sich lohnt, weil ihnen nur der eigene Vorteil wichtig ist. Um seinetwillen foltern und morden sie, vergewaltigen und verraten, lügen und locken sich gegenseitig in Fallen.
Ob es sich um eine überlieferte Anekdote aus dem Leben Ludwig van Beethovens handelt, um Observationsberichte inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit, das Schicksal von einst engen Weggefährten Stalins, denen in den Jahren zwischen 1936 und 1938 aus fadenscheinigen Gründen der Prozess gemacht wurde, oder die Bekenntnisse des Serienmörders Fritz Haarmann, bevor man ihn im Dezember 1924 vierundzwanzig Mal zum Tode verurteilte – immer bleibt Schädlich jener literarischen Methode treu, die man schon aus seinen bisherigen Büchern kennt. Von allem schmückenden Beiwerk befreit kommen seine Texte daher. Wertungs- und kommentarlos, auf Knappste reduziert erscheinen deren Sätze. Vermittelt wird die reine Essenz eines Geschehens. Und doch löst das in den Lesenden etwas aus. Denn wenn man Sätze zur Kenntnis nehmen muss wie „Jedes Jahr an einem sonnigen Morgen im August ging Lydia ins Krankenhaus sterben.“ oder „Sie hatten sich versteckt, wo sie nicht gesucht wurden: in einer Latrinengrube.“ bleibt das nicht ohne inneres Echo.
In vier kleinen, über das schmale Buch verstreuten Texten lässt Schädlich eine fiktive Figur namens Charlie zu Wort kommen. Er, der im Heute lebt, aber eigentlich zu allen Zeiten vorstellbar ist, besitzt im Ansatz all die Eigenschaften, die auch für jene Henker und Gewalttäter typisch sind, deren Namen sich mit der unheilvollen Geschichte von Kriegen, Terrorregimen, Genoziden und Säuberungsaktionen in den eigenen Reihen untrennbar verbinden lassen. Charlie ist ein Mensch ohne Moral und Grundsätze. Ihm geht es um nichts anderes als um die Befriedigung seiner egoistischen Bedürfnisse. Da die in erster Linie sexueller Art sind und sich in der Regel auf die Frauen anderer – manche von ihnen Fremde, manche Freunde – beziehen, hat man in diesem Mann so etwas wie den Prototyp des frauenfeindlichen, weder Anstand noch Rücksicht kennenden, brutal seinen Einfällen und Trieben lebenden Menschen vor sich.
Allein etwas unterscheidet diese abstoßende Figur von Massenmördern wie dem „Pockennarbigen“, als den Schädlich Stalin in der den Band eröffnenden Geschichte Die Nacht der Poeten auftreten lässt: Charlie fehlt die Macht. Statt seiner tief verwurzelten Menschenverachtung ähnliche Verbrechen folgen zu lassen wie die, welche der Herr im Kreml beging, um seine Alleinherrschaft zu sichern, muss Schädlichs Anti-Held froh sein, wenn er von den Gewaltausbrüchen seiner Gegner nur wenig spürt. Einen Lerneffekt besitzen diese Konfrontationen für ihn freilich nicht. Charlie ist und bleibt ein Möchtegern-Diktator – zum Glück aber eben einer, dessen Reich am Stammtisch nicht nur beginnt, sondern auch endet.
Von besonderer Aktualität scheinen jene Texte, in denen Menschen heraufziehende Gefahren zwar wahrnehmen, aber unterschätzen. So wie das Ehepaar Feuchtwanger, das 1932 auf einer Soiree im Hause des jüdischen Berliner Arztes Dr. Haustein, angesprochen auf die „trügerische[-] Sicherheit“, in der man sich angesichts des immer deutlicher zutage tretenden Antisemitismus in Deutschland wiege, erwidert, Judenhass habe es hierzulande schon immer gegeben. „Die Rechten kommen und gehen“, ist Marta Feuchtwanger überzeugt. Und ihr Mann ergänzt: „Wir wollen uns nächstens in Berlin ein Haus kaufen.“ Während der Schriftsteller und seine Frau dem faschistischen Terror freilich erst ins französische und anschließend ins amerikanische Exil entfliehen müssen, gelingt das ihrem einstigen Gastgeber nicht. Im November 1933 macht Dr. Haustein, nachdem man ihm die Kassenzulassung entzogen hatte und er seine Praxis schließen musste, seinem Leben im Gefängnis Spandau selbst ein Ende.
Gelegentlich, wenn auch selten, ist in den Texten des Bandes auch von aufrechten Menschen die Rede. Etwa von jenem Doktor H., der wegen seiner Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie 1933 aus seinem Amt als Landrat in Oldenburg/ Holstein vertrieben wurde. Nachdem er die Nazizeit auf Rügen knapp überlebt hatte, setzte ihn die sowjetische Militärregierung erneut als Landrat ein, diesmal für Rügen und Hiddensee. Fortan galt er als unbelastet und kenntnisreich, praktisch nicht zu ersetzen. Und damit das auch jedem klar war, trug Doktor H. immer eine in russischer und deutscher Sprache ausgefertigte Bescheinigung bei sich: „Landrat H. darf niemals erschossen werden.“
Unbeugsam tritt auch Ludwig van Beethoven gegenüber dem Fürsten von Lichnowsky 1806 auf Schloss Grätz auf. Von seinem Freund und Förderer gebeten, für napoleonische Offiziere, die als Gäste des Fürsten am Hofe weilten, während einer Soiree zu spielen, verweigerte er das mit der Begründung, nicht vor den Feinden seines Vaterlandes auftreten zu wollen. Fortan waren Lichnowsky und Beethoven geschiedene Leute. Ähnlich gelagert – wenn auch mehr als anderthalb Jahrhunderte später spielend – ist die Geschichte jener zwei Angestellten eines Spracharchivs, die für einen ostdeutschen Kriminalpolizisten die Identität zweier junger Menschen, die einem Westkorrespondenten ein Interview gegeben hatten, aufgrund ihres Dialektes herausfinden sollen. Ihr mutiger Satz „Das Archiv dient sprachwissenschaftlichen Zwecken, nicht der Verfolgung von Oppositionellen durch den Sicherheitsdienst des Staates.“ bleibt zwar nicht ganz folgenlos, vor weiteren Zumutungen dieser Art schützt man sich freilich durch den Hinweis auf sofortige Dekonspiration.
Das Tier, das man Mensch nennt – Schädlich verdankt seinen Buchtitel einem Brief von Jonathan Swift (1667–1745) an Alexander Pope (1688–1744) aus dem Jahr 1725 – plädiert ex negativo für ein Leben in Würde und Wahrheit, indem die versammelten Texte in ihrer Mehrzahl gerade solche Figuren auftreten lassen, die Humanität und Mitgefühl verachten. Leider sind das nur allzu oft gerade jene, die sich für eine gewisse Zeit durchgesetzt haben im Laufe der Geschichte und all das in Wort und Tat ad absurdum führten, was Menschsein bedeutet. Ob Massenmörder oder Triebtäter, Denunziant oder Henker, Nazischerge oder Folterknecht –Schädlichs Texte lassen unterm Strich keinen Zweifel daran aufkommen, wie der Autor selbst über die Phalanx von Gewalttätern und Demagogen denkt, die er vor seinen Lesern aufmarschieren lässt, und welche Haltungen er mit seinen kleinen Texten am liebsten befördern würde.
Sein Buch gewidmet hat Hans Joachim Schädlich übrigens der Erinnerung an Alexander V. Isačenko (1910–1978). Mit dem in St. Petersburg geborenen und nach der Oktoberrevolution nach Österreich emigrierten Sprachwisssenschaftler publizierte er, als Isačenko zwischen 1960 und 1965 die Arbeitsstelle für Strukturelle Grammatik an der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin leitete und Schädlich dort als Wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war, gemeinsam das Buch Untersuchungen über die deutsche Satzintonation (1964). Auch Isačenko gehört in die Reihe jener Menschen, die keinen festen Ort in dieser Welt zu finden vermochten und immer wieder Verhältnissen entfliehen mussten, die sie auf Grund ihrer Anschauungen sonst nicht überlebt hätten. Insofern hätte Schädlich wohl keinen Geeigneteren finden können, um seinem kleinen, aber gewichtigen Buch das Geleit zu geben.
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