Sein Motto war: „Ich hab’s gewagt!“
Zum 500. Todestag von Ulrich von Hutten
Von Manfred Orlick
Ein fünfhundertjähriges Jubiläum ist in der Literaturgeschichte ziemlich selten, daher soll an den 500. Todestag des radikalen Humanisten, Dichters, Kirchenkritikers und fränkischen Reichsritters Ulrich von Hutten erinnert werden. Eine „gewagte“ Würdigung, denn an dem ritterlichen Rebell schieden sich die Geister. Keiner wurde zu seiner Zeit so bewundert, keiner so angefeindet. Später wurde das Leben des „Märtyrers der teutschen Freiheit“ in unzähligen Biografien, Romanen, Dramen und Gedichten thematisiert, wobei sich jede Epoche und jedes politische System ein eigenes Hutten-Bild machte. Die Spannbreite reichte dabei von „streitbarer politisch-geistiger Erwecker“ bis zu „Ahnherr einer chauvinistisch-völkischen Ideologie“. Huttens Forderung nach einem geeinten Reich unter einem starken Kaiser einerseits und sein unerschrockener Kampf gegen die Willkür der Territorialfürsten und die Bevormundung der Kirche andererseits führten zu diesen unterschiedlichen Sichtweisen. Dadurch wurde häufig der Zugang zu der literarischen Persönlichkeit Hutten verstellt.
Huttens Biografie weist manche empfindliche Lücke auf und wird außerdem von einigen Legenden überwuchert. Geboren wurde Ulrich von Hutten am 21. April 1488 als Sohn eines Reichsritters auf der Burg Steckelberg nahe Schlüchtern (Hessen). Obwohl er der Erstgeborene war, bestimmten ihn die Eltern wegen seiner schwächlichen Konstitution für eine geistliche Laufbahn und übergaben den inzwischen Elfjährigen der Stiftsschule der alten Reichsabtei in Fulda. 1503 wurde er wahrscheinlich vom Kloster zu einem zweijährigen Normstudium an die Universität Erfurt geschickt. Danach kehrte er jedoch nicht nach Fulda zurück, vielmehr folgte eine jahrelange Wanderschaft von einer Universität zur nächsten: Mainz (1505), Köln (1505/1506), Erfurt (1506) und Frankfurt an der Oder (1506/1507). An der gerade gegründeten Universität legte er schließlich sein Bakkalaureats-Examen ab, womit er eine begrenzte universitäre Lehrbefugnis erlangte. Damit nahmen die Wanderjahre jedoch kein Ende. Anfang 1508 verließ er Frankfurt an der Oder, um für ein Jahr an der Leipziger Universität zu studieren und zu lehren. Weitere universitäre Aufenthalte sind in Greifswald (1509), Rostock und Wittenberg (beide 1510) nachgewiesen.
Huttens erste literarische Veröffentlichung Querelarum libri duo in Lossios (1510) ging auf ein Greifswalder Erlebnis zurück. Hier war der mittellose Hutten von dem Bürgermeister Wedig und dessen Sohn Henning Lötz, ordentlicher Professor des Rechts, zunächst gastlich aufgenommen worden; doch bald traten Meinungsverschiedenheiten auf. Daher beschloss Hutten mitten im Winter, Greifswald zu verlassen und sein Glück in Rostock zu versuchen. Unterwegs wurde er jedoch von Lötzes Knechten gestellt, die ihm alles Hab und Gut sowie ein Bündel seiner Schriften abnahmen, weil er sich angeblich fälliger Zahlungsforderungen entziehen wollte.
Es ist nicht sicher, ob sich der Vorfall wirklich so abgespielt hat. Hutten schleppte sich jedenfalls mühsam nach Rostock, wo er wieder Freunde und Gönner fand. Sein ritterliches Ethos verlangte aber eine Aufarbeitung der Schmach und so prangerte er in dem zweiteiligen Pamphlet Querelae (20 Elegien) zunächst das ihm zugefügte Unrecht an; im zweiten Teil stellte er dann die Vertreter der neuen humanistischen Richtung vor, die ihm zu seinem Recht verhelfen sollten, da ihnen ja das gleiche Schicksal widerfahren könne.
Ehe Hutten 1511 zu Fuß nach Wien ging, hatte er in Wittenberg ein weiteres Werk erarbeitet: De arte versificatoria (Über die Verskunst), eine Einführung in die Regeln der lateinischen Poetik, die auf seinen Vorlesungen beruhte. Die Schrift diente lange Zeit als Lehrbuch und erlebte im 16. Jahrhundert zahlreiche Nachdrucke. In Wien wurde Hutten von dem Gelehrten Joachim Vadian (1484-1551) in den dortigen Humanistenkreis eingeführt. Hier erwachte sein politisches Interesse, das in Ad Caesarem Maximilianum Epigrammatum Liber unus seinen Niederschlag fand. Mit dieser Mahnschrift wollte Hutten Kaiser Maximilian unterstützen, der für ihn Repräsentant einer angestrebten deutschen Nation war. In Quod Germania nec virtutibus nec Ducibus ab Primoribus degeneraverit Heroicum wandte er sich den Problemen der deutschen Geschichte zu. Mit diesen beiden Werken zeigte sich Huttens Dichtkunst auf einem künstlerischen Höhepunkt.
Trotz der Erfolge verließ Hutten Wien bereits nach vier Monaten, um dem väterlichen Wunsch Rechnung zu tragen und an italienischen Universitäten (Pavia und Bologna) sein Studium der Rechtswissenschaften fortzusetzen. Da er in finanzielle Schwierigkeiten geriet, musste er zwischenzeitlich in Maximilians Heer Kriegsdienst nehmen. Die Kriegserlebnisse verarbeitete er in zahlreichen Epigrammen. Als Hutten 1514 nach Deutschland zurückkehrte, war das Elternhaus enttäuscht, dass er keinen akademischen Grad mitbrachte. Durch einen Vetter erhielt er den Auftrag, ein Lobgedicht (immerhin 1300 Zeilen) auf den Markgrafen Albrecht von Brandenburg (1490-1545) zu verfassen, der gerade zum Erzbischof und Kurfürsten von Mainz gewählt worden war. Als Dank für das Fürstenlob erhielt Hutten 200 Gulden zur Fortsetzung seines Studiums und nach dessen erfolgreichen Abschluss die Aussicht auf eine Stelle am Mainzer Hof. Doch kurz vor seiner Abreise wurde Hutten in eine familiäre Fehde mit dem Württemberger Herzog Ulrich verwickelt, der einen heimtückischen Mord an einem Vetter Huttens verübt hatte.
Von 1515 bis 1517 setzte Hutten in Italien (Rom, Bologna, Ferrara und Venedig) sein Studium fort. Sein Aufenthalt war aber von dem Kriegsgeschehen (Schlacht von Marignano) in Oberitalien beeinflusst. Hier reihte sich Hutten in den Chor der Kritiker ein, die den weltlichen Herrschaftsanspruch des Papsttums anprangerten. Als er 1517 nach Augsburg zurückkehrte, krönte ihn Kaiser Maximilian zum Poeta laureatus. Wenig später nahm ihn der Erzbischof von Mainz in seinen Dienst, der ihm aber genügend Freiraum ließ, damit er sich weiter der Schriftstellerei widmen konnte. Mit dem Humanisten Crotus Rubeanus (ca. 1480-1545) veröffentlichte Hutten die sogenannten Dunkelmännerbriefe (Epistolae obscurorum virorum), die in künstlerischer Form der Satire und der Parodie die scholastische und veraltete Bildung an den Universitäten der Lächerlichkeit preisgab. Da weder Verfasser, Herausgeber noch Druckort angegeben wurden, konnte die Geschichtsforschung die Autorenschaft erst viel später aufklären. Huttens Anteil an den Dunkelmännerbriefen erschien wahrscheinlich 1517, wenige Monate vor dem Thesenanschlag an der Schloßkirche zu Wittenberg durch Martin Luther, der dem satirischen Angriff auf die Scholastik allerdings ablehnend gegenüberstand und den Verfasser einen „Hanswurst“ nannte.
Nach dem Tod Maximilians 1519 ließ sich Hutten vom Dienst bei Kardinal Albrecht beurlauben. Damit brauchte er künftig in seinen zornigen Schriften weniger Rücksicht auf die Interessen eines Landesherrn nehmen. In rascher Folge entstanden vier lateinische Prosadialoge nach dem Vorbild Lukians (120-180 n.Chr.), in denen er die Missstände der Geistlichkeit und den Einfluss des Papsttums in Deutschland anklagte. Damit gelang ihm die Annäherung an die Wittenberger Martin Luther (1483-1546) und Philipp Melanchthon (1497-1540). Während einer Reise in die Niederlande besuchte er auch Erasmus von Rotterdam (1466?-1536), der sich jedoch später von Hutten distanzierte.
Aufgrund seiner antirömischen Polemik („Ein Weltmeer könne man mit Huttens Schriften vergiften“, so der päpstliche Nuntius Hieronymus Aleander) hatte der Papst verschiedene Fürsten – besonders Albrecht von Mainz – in Briefen aufgefordert, etwas gegen den Aufrührer wider Rom zu unternehmen. Damit hatte die Kontroverse eine neue Dimension erhalten. Um sich und seine Familie nicht zu gefährden, hielt sich Hutten von September 1520 bis Mai 1521 bei seinem Vertrauten Franz von Sickingen (1481-1523) auf der Ebernburg („Herberge der Gerechtigkeit“) bei Kreuznach auf, von wo er auch das Reichstagsgeschehen im nur 45 km entfernten Worms verfolgte.
Die drohende Verfolgung durch Rom veranlasste Hutten, seine Schriften jetzt dem „gemeinen Volk“ bekanntzumachen. Seine zunächst in Latein publizierten Dialoge übertrug er nun in die deutsche Volkssprache, herausgegeben als Gesprächsbüchlein 1521 in Straßburg. Mit dieser Übertragung radikalisierten sich Huttens literarische Fehden gegen Rom, Prälaten und Pfaffen; er wurde gewissermaßen zum politischen Agitator. Die große Wirkung blieb jedoch aus, da den Dialogen immer noch etwas Ritterliches und Adeliges anhaftete. Huttens Vorbild folgend, griffen auch andere Autoren der damaligen Zeit zur deutschen Sprache, sodass um 1520 eine revolutionäre öffentliche Meinung in Deutschland entstand. Selbst katholische Gegner begannen, statt des ausschließlich den Gebildeten vorbehaltenen Lateins die deutsche Sprach zu benutzen.
Mit seiner Schrift Vermahnung an die freien und Reichsstädte deutscher Nation (1522) versuchte Hutten, Städte und Ritter zu einer Vereinigung zu überreden. Seine Kritik an der Papstkirche und der nur konfessionell-theologischen Reformation (er wollte vielmehr eine politische Reichsreform) äußerte sich vor allem in seinem programmatischen Gedicht Ain new lied her Ulrichs von Hutten, in dem er verdeckt zum bewaffneten Widerstand aufrief:
Ich habs gewagt mit sinnen Ich habs gewagt mit Sinnen
und trag des noch kain rew, Und trag des noch kein Reu,
mag ich nit dran gewinnen, Mag ich nit dran gewinnen,
noch muoß man spüren trew; Noch muß man spüren Treu;
dar mit ich main Darmit ich mein
nit aim allain, Nit eim allein,
wenn man es wolt erkennen: Wenn man es wollt erkennen:
dem land zuo guot, Dem Land zu gut,
wie wol man tuot Wiewohl man tut
ain pfaffenfeind mich nennen. Ein Pfaffenfeind mich nennen.
[…]
Das kämpferische Gedicht, in dem Hutten rückblickend sich zu dem bedingungslosen Einsatz seiner Existenz bekannte und ihn rechtfertigte, ist noch heute in den meisten deutschen Gedichtanthologien zu finden (u.a. Echtermeyer, Reclam oder Der Ewige Brunnen).
1522 zog Franz von Sickingen in den Krieg gegen das Kurfürstentum Trier, an dessen Vorbereitung der inzwischen gesundheitlich schwer angeschlagene Hutten mitgewirkt hatte. Damit war neben der kirchlichen auch die kaiserliche Macht herausgefordert. Nach der gescheiterten „Trierer Fehde“ wurde Hutten in Reichsacht geschlagen. Unter dem Schutz des Reformators Huldrych Zwingli (1484-1531) floh er in die Schweiz, wo er eine letzte Demütigung erleben musste: Erasmus von Rotterdam weigerte sich in Basel, ihn auch nur zu empfangen. Auf der Klosterinsel Ufenau im Zürichsee wurde der schwerkranke Hutten von dem heilkundlichen Pfarrer Hans Klarer gepflegt. Im Alter von 35 Jahren erlag er schließlich am 29. August 1523 seiner syphilitischen Krankheit.
Ulrich von Hutten wandelte sich vom Humanisten, vom gelehrt-literarischen Sprachkünstler zum volkssprachlichen Publizisten, der mit seiner Wortkunst patriotische Begeisterung auslösen konnte. In einer Zeit, die von tiefgreifenden gesellschaftlichen und religiösen Veränderungen geprägt war, griff er offen in die politischen und sozialen Kämpfe ein. Gemeinsam mit Martin Luther war er der Hauptverfechter gegen die Alte Kirche und das Papsttum. Im Bestreben, seine Ideale zu realisieren, blieb der Renaissancemensch Hutten jedoch in seinen Standesvorurteilen befangen und in Widersprüche verstrickt, die sich unter den Bedingungen der damaligen Zeit nicht lösen ließen.
Heute ist es fast unmöglich, die Vielzahl der Traktate, Pamphlete, Streitgespräche, Klagschriften und persönlichen Briefe, die Hutten ausnahmslos in der kurzen Zeitspanne der Reformationsjahre 1519 bis 1523 verfasst hatte, im Einzelnen zu erfassen oder gar zu würdigen. Häufig griff er dabei aktuelle Zeitereignisse auf, um das Interesse der Leser zu wecken, sodass er später öfters als „erster Journalist“ bezeichnet wurde. Die Hutten-Forschung begann erst im 18. Jahrhundert durch Wieland und Herder (1776). Im 19. Jahrhundert, vor allem im Zuge des Vormärz und der 1848er Revolution, erschienen dann erste Hutten-Biografien und Werkausgaben, u.a. durch den Historiker Eduard Böcking (1802-1870), der mit Vlrichi Hvtteni Eqvitis Germani Opera 1859-1862 eine fünfbändige Ausgabe herausbrachte, die noch heute ein Standardwerk darstellt. Zum 500. Geburtstag Ulrichs von Hutten waren 1988 noch viele kleinere und größere Arbeiten erschienen, die man zum diesjährigen Jubiläum leider vergeblich sucht.