Anfang und Ende der Welt

Dietrich Brüggemanns Dystopie „Materialermüdung“

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Typus des verwirrten Zeitgenossen, der den Gästen im Restaurant kleine Zettel mit kryptischen Botschaften zusteckt – „Das E.N.D.E der WELT IST NAH!“ –, dürfte nicht nur in Berlin anzutreffen sein und nicht nur in unserer Gegenwart, womöglich gehäuft, auftreten. Denn wer kommt da nicht ins Grübeln, wenn überall vertraute Gewissheiten verloren gehen? Binäre Geschlechter, „Vaterschaftsgedanken“, politische Heimaten, Gesellschaftsentwürfe stehen derzeit allesamt zur Disposition, werden erbittert verteidigt und höhnisch diskreditiert. Aktuell plant die Bundesregierung, es trans- und intergeschlechtlichen sowie nicht-binären Personen zu erleichtern, ihren Vornamen zu ändern und einmal im Jahr (!) auch ihren Geschlechtseintrag. Damit ist die „gottgewollte Ordnung“ dahin, wie sie das christliche Abendland einst ersonnen hat. Aber war deren Menschheitskonzept nicht auch bloß Ideologie, die sich, um sich zu retten, am Ende auf Biologie herausreden musste?

Heutige Autoren, die sich solchen Fragen zu stellen haben, sind nicht zu beneiden, wenn sie nicht nur ein bissel „gendern“, sondern sich gezielt auf vermintes Gelände begeben wollen. Der Filmemacher und Musiker Dietrich Brüggemann, Jahrgang 1976, will genau das: In seinem Romandebut Materialermüdung werden die Grundfesten Alteuropas von einer bunt-diversen, hip-kreativen Großstadtklientel erschüttert. Die zumeist jungen, gut ausgebildeten, bestens etablierten Protagonisten entstammen selbst einer verunsicherten Welt der Patchwork-Familien, Start-up-Unternehmen, Sozialen Medien. In diesen Kreisen heißt man nicht einfach so „Eva-Maria“, sondern aus Rache – die Namensgeber wollten der feministischen Großmutter einen Tort antun. Oder man heißt „Moses“, „Hannah“ oder „Rachel“ nicht einfach deshalb, weil man jüdisch wäre, sondern weil der Holocaust als Zivilisationsbruch solcher Gesten der Versöhnung bedarf: Auschwitz und Onomastik sind in dieser Welt eng miteinander verzahnt.

Im Anfang werden Adam und Eva, die hier Jacob und Maya heißen, aus dem Paradies vertrieben, das hier im Brandenburgischen liegt (oder in der Uckermark oder wo, man weiß es ja nicht), jedenfalls auf dem ehemaligen Staatsgebiet der DDR, im weiträumigen Speckgürtel Berlins, wo die Ortschaften beispielsweise „Faschow“, „Pornow“ oder „Brutalow“ heißen mögen. Die Frucht vom Baum der Erkenntnis ist hier wurmstichig, und das frisst sie an, die Erkenntnis (wie Adorno sagen würde). Von Adorno ist hier gleich auch noch die Rede, denn als Gisela mit einem Kind zur Welt kommt, muss Günther an Adornos Verbotsästhetik denken, der zufolge es barbarisch sei, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben – oder Kinder zu zeugen (Adorno selbst hatte und wollte keine). Wer konsequent sei, so Günther, dürfe nach Auschwitz „kein neues Leben“ zeugen, nicht „im Land der Täter“ – „dort konnte man eigentlich gar nicht mehr leben.“ Das klingt ernst, ja kompromisslos, wird aber originell und federleicht hergeleitet, genau wie der rabenschwarze Humor, der diesen wunderbaren Roman von der ersten Zeile an durchzieht. Selbst wenn er von schlimmen Dingen handelt, ist der Modus lustig. Die Erzählweise ist zugleich ein Musterbeispiel dafür, wie man Political Correctness thematisieren kann, ohne ihr zu erliegen – wie man stumpfe Verbotsästhetik unterläuft, indem man ihre Aporien konsequent weiterdenkt. Brüggemanns Buch ist scharf gedacht und scharf gemacht: klug kalkuliert, forsch formuliert und intelligent instrumentiert. Und es ist niemals Klamauk, nirgendwo Traktat, auch kein Experiment -– gleichwohl köstlich, lehrreich und unterhaltsam.

Einige der Protagonisten, die der Autor mit messerscharfem Kalkül charakterisiert, verstehen Identität als Disposition, die sich nach den Umständen zu richten habe. Zum Beispiel jener (uneheliche) Kindsvater, der Israeli oder Palästinenser, Ägypter oder Marokkaner (oder sonstwas) sein könnte, hier aber nur eine – gleichwohl folgenreiche – Nebenrolle zu spielen hat: Es gehört zur Erzählökonomie des Romans, dass wir seinen Namen nicht erfahren, bloß den seines Sohnes, Moses, der 1979 zur Welt gekommen sein dürfte. Wieder denkt man an Bibel und Holocaust, doch ist der Hintergrund diesmal ein primär filmischer – angespielt wird hier auf Moses Gunn aus der Serie „Shaft“ als Namenspatron. Gleichwohl sorgt der Roman dafür, dass uns Holocaust und Bibel nicht aus dem Blick geraten, und wie er das macht, ist anstößig und unnachahmlich zugleich, genial und witzig. Und wie gesagt: ohne jeden Klamauk, sondern mit Anstand, Gefühl, Angemessenheit und Überlegung. Wir merken, dass uns beides noch angeht, aber wir werden darüber nicht belehrt.

Stadt und Land, der Osten und der Westen mit ihren Sozialisationsweisen und Siedlungsformen werden hier mit wenigen Strichen anschaulich illustriert. Das Milieu ist in gewisser Weise homogen – alles Leute mit viel Intellekt und einiger Ratio, die ständig Gefahr läuft, ins Abwegige zu driften, was selbst schon komikträchtig ist. Denn selbst dort, wo die Überlegsamkeit der Figuren voll ins Schwarze trifft, bekommt der Witz sein Recht – zumal das ernst Grundierte oftmals das Absurde repräsentiert, inklusive der nervtötenden aktuellen Nachgeplapper-Diskurse um Cis-Menschen, Tätowierte, Priviligierte Weiße Männer und Kommunikationsmedien. Neben der Einsicht, dass der Holocaust ein Menschheitstrauma darstellt, mit dem alle Kulturen bis heute umgehen müssen, und zwar mit direkter Konsequenz für ihre eigene soziale Praxis, bricht sich hier auch die Erkenntnis Bahn, dass moderne Subjektkonstitutionen und Paarkonstellationen im Grunde mythischer Natur sind, die schon bei Adam und Eva einsetzen und noch als Wiedergänger von Orpheus und Eurydike (alias Moses und Hannah) der Gegenwart Rätsel aufgeben: „Ich werde hinabsteigen in die Unterwelt, um meine Schwester zu finden, und mit einem Haar von ihr wieder in die Welt der Lebenden zurückkehren, damit mein Vater in Frieden sterben kann.“

„Wiebitte?“, rätselt nicht nur Jacob, sondern fragt sich auch der Leser, der jedoch rasch in die Lage versetzt wird zu verstehen, was hier entwickelt werden soll. Was Brüggemann nämlich erzählt, „leuchtet total ein“, um mit Maya zu sprechen, die durch ihren trockenen Humor auffällt, mit dem sie jede pathetische Gebärde des Seelensuchers Moses kommentiert, dem hier die Aufgabe zukommt, „das Gesetz“ der Familie, der Freundschaft und des Lebens in toto zu entdecken und zu formulieren. Insofern sollte man bei seinem Namen nicht nur an „Shaft“ denken (der ja im Prinzip nichts anderes tut), sondern auch an Freud, der uns eine bedeutende „Moses“-Studie geschenkt hat – und zugleich eine Grundlegung jener Konfliktlagen, die hier vor uns entfaltet werden und die sich zu unserer brüchigen Gegenwartskultur und ihren erhitzten Debatten komplementär verhält. Brüggemanns Roman ist nämlich, bis in seine Sprachlichkeit hinein, zeitlos und hochaktuell: Wir erkennen alles wieder, was uns immer schon umgetrieben hat oder derzeit umtreibt, auch den Genderdiskurs natürlich, und es ist köstlich zu lesen, wie produktiv und gewitzt man davon und zugleich damit erzählen kann, ohne sich darüber zu erheben oder Befürworter und Gegner aufeinander zu hetzen. Der Autor und Filmemacher ist kein Regisseur des Gemetzels, doch seine messerscharfen Dialoge schneiden tief in die Erkenntnis der „Finsterworld“, in der wir leben.

Kennt jemand diesen tollen Film von Frauke Finsterwalder und Christian Kracht? Damit könnte man in etwa Brüggemanns Ästhetik und Erzählweise (und partiell auch Thematik) vergleichen: Die intellektuellen Grabenkämpfe unserer Zeit und die Hypothek unserer Vergangenheit fungieren hier als Dispositive, als Diskursmaterial und als intelligente Spielform zugleich. Damit aber zu spielen, bedarf es großer Souveränität und Versiertheit, einer gewissen Chuzpe, wenn man selbst diejenigen mitnehmen will, die von Mahnmaldebatten, Vergangenheitspolitik, Cancel Culture, kultureller Aneignung, Tinder und Whatsapp, LGBTQIA Plus (sowie etc.pp) angefressen sind.

Ein freier Erzähler in ideologisch vergifteter Zeit ist hier zu beobachten, einer, der um vermintes Gelände keinen Bogen machen muss, der – im Gegenteil – eine Bombe nach der anderen hochgehen lässt, der ein Feuerwerk zündet. Zugleich einer, der Konzepte dramaturgischen Erzählens – prominent den Deus ex machina – diskutiert und ausprobiert (und sogar neu konzeptualisiert), denn nicht nur sein Personal, sondern die Menschheit insgesamt steht vor Problemen, die sie allein nicht zu lösen vermag. Kommt man da mit „Eingebungen“ weiter – mit dem „Einfall“?

Alles, was ein Literaturkritiker über einen Autor und sein Buch sagen kann, ist tendenziell übergriffig. Alles, was er ihm an „Meinungen und Deinungen“ (Robert Gernhardt) unterstellt, ist potentiell tendenziös. Erst recht, wenn er als „weißer Cis-Mann“ im Zuge des „Mansplainings“ sein Urteil fällt. Man kann aber auch nicht nicht urteilen über diesen Roman, der die Gattungsbezeichnung im Untertitel vermeidet (im Unterschied zum Umschlagentwurf) und der recht nüchtern unterteilt ist. Eine Kapitelüberschrift könnte „Wahlverwandtschaften“ heißen, da „Vaterschaftsgedanken“ nicht mehr in die Queerness-Awareness der dargestellten Welt passen und da die Paarbildungen sich auflösen und neue Konstellationen eingehen. Die entsprechende Kapitelüberschrift heißt jedoch „Wortfindungsstörung“, was seltsam ist, da sprachliche und sachliche Aphasien hier kaum beobachtbar sind, mit Ausnahme vielleicht der „leidigen Tatsache“ (Bernd W. Seiler), dass eine Frau, die sich gerade den Arm gebrochen hat, ihrem Freund nicht die blutende Beinwunde abbinden kann. Andere Kapitel heißen „Schöpfung“, „Vertreibung“, „Segnung“ – und Gottesvorstellungen, darunter der Deus ex machina, werden hier im Rückgriff auf Autorschaftskonzepte diskutiert. Wieder andere Überschriften thematisieren technische Phänomene („Kernspaltung“, „Phantomspeisung“) oder deuten auf soziale oder zivilisatorische Euphemismen („Bauchlandung“, „Resteverwertung“, „Unschuldsvermutung“) der Apokalypse.

Der Roman ist Text und Metatext zugleich – er entwirft eine Welt, in der einzutreten scheint, was man sich gerade erzählt. Utopie und Dystopie liegen dabei dicht beieinander oder gehen gar ineinander über. Am Ende dieses literarischen Roadtrips kreuz und quer durchs Land wird eine Figur herausgehoben aus der Schöpfung – damit Gott „aus dem Hefen des Volkes“ eine neue Schöpfung zaubern kann: „Wir wollen einen neuen Versuch wagen.“

Titelbild

Dietrich Brüggemann: Materialermüdung.
Roman.
Edition W, Frankfurt a.M. 2022.
490 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783949671036

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