Keine Welt geht verloren

Stella Levi eröffnet mit Michael Frank in „Einhundert Samstage“ den Blick auf das Schicksal der Juderia von Rhodos

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stella Levi, geboren 1923, ist nicht verwandt mit dem großartigen Primo Levi, doch im “Centro Primo Levi” in New York traf sie als Vorstandsmitglied auf den Schriftsteller und Publizisten Michael Frank. An “einhundert Samstagen”, an denen sich die beiden daraufhin innerhalb von sechs Jahren getroffen haben, wurde Stella Levi für Michael Frank “eine Scheherazade, eine Zeugin, eine Beschwörerin und eine Zeitreisende”. Das vorliegende Buch beruht auf gut vorbereiteten Interviews (am Schluss des Bandes gibt es eine “Ausgewählte Bibliographie” zum Thema). Trotzdem handelt es sich bei diesem Text zumindest an manchen Stellen um mehr als einen langen journalistischen Artikel, vielmehr um überzeugende Literatur.

Stella Levi “wollte nie eine auf dem Podium stehende Überlebende, eine Erzählerin des Holocaust sein”. Erst mit über neunzig Jahren erzählt sie Michael Frank ihre Lebensgeschichte und lernt dabei, “dass es nicht nur eine Wahrheit gibt; […] und man versteht eine Menge, wenn man wieder und wieder zu dem zurückkehrt, was man sicher zu denken, fühlen und glauben meinte.” Als Leser:in des Buches kann man freilich noch ganz anderes lernen.

Die Stationen von Stella Levis Odyssee, in der es allerdings keine tatsächliche Heimkehr gibt, da die Welt des Anfangs, die Juderia auf Rhodos, im beginnenden 20. Jahrhundert barbarisch vernichtet wurde, erstrecken sich über halb Europa und die USA. (Für einige Familienmitglieder kommen noch die Türkei, Ägypten und der Kongo dazu.) So lernen wir zunächst die Welt der im 15. Jahrhundert aus Spanien vertriebenen sephardischen Juden kennen. Sie sprechen “Judäo-Spanisch” (bei Elias Canetti heißt die Sprache “Spaniolisch”, er stammt aus dem damals osmanischen Bulgarien und erinnert die Welt seiner sephardischen Vorfahren in seiner Autobiographie “Die gerettete Zunge”). Es ist eine religiös geprägte Welt trotzigen, stolzen Bewahrens eigener Traditionen, die weitgehend friedlich mit den anderssprachigen und anderen Religionen folgenden Bewohnern von Rhodos auskommt.

Beispielhaft wird das Ausmaß der Veränderung in der Juderia in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch die Begegnung mit der Moderne geschildert. In Stellas Familie ist es besonders der Kontakt zur französischen und italienischen Philosophie und Literatur, die bei einzelnen Mitgliedern ein Zurückdrängen religösen Denkens und Fühlens und das Infragestellen des Herkömmlichen befördert. Feinfühlig wird das intellektuelle und soziale Leben besonders der Jugendlichen gezeichnet. Faszinierend wie in all den Veränderungen die Kontakte zu Griechen, Türken, Italienern und später auch Deutschen menschliche Größe ebenso wie menschliches Versagen bedeuten.

Der Faschismus und Mussolinis Bündnis mit Hitler-Deutschland besiegeln den Untergang. Beeindruckend dabei wie Stella Levi versucht, Pauschalurteile zu vermeiden und einzelnen Individuen gerecht zu werden. Mit der brutalen Deportation der rhodesischen Juden beginnt ein unsäglicher Leidensweg: “Rhodos, Athen, Auschwitz-Birkenau, Landsberg, das Lager ohne Namen, Allach”. Kein Mensch wird dieses Zeugnis unberührt lassen. Stärke, Solidarität und Mut der Interviewten und ihrer Leidensgenossinnen, die das Überleben ermöglichen, werden unprätentiös und glaubhaft dargestellt. Die Überlebenden der Lager “hatten eine ganze Gemeinde in der Asche von Auschwitz zurückgelassen.” Das sei auch der Grund gewesen, dass niemand nach Rhodos zurückkehrte, um dort zu leben.

Der dritte Abschnitt dieser Lebensgeschichte beginnt nach den Lagern. In den ersten Jahren nach der Befreiung zögerten die Leute, “hatten Angst, oder ihnen fehlten die Worte, um Stella und die anderen nach ihren Erfahrungen in den Lagern zu fragen, und sie dachten, sie würden die jungen Frauen irgendwie beschützen, indem sie sie nicht darauf ansprachen.” Alles Vertraute, ein Zuhause war verloren, eine neue Sprache zu erlernen, neu zu finden eine Antwort auf die Frage “Wer bin ich?”. Nach einem Aufenthalt in Bologna und Florenz fuhren am 19. November 1946 Stella und ihre Schwester Renée nach Neapel. Hier gingen sie “an Bord der Marine Perch, Ziel New York, wo sie knapp drei Wochen später am 9. Dezember anlegten.” Zwei “orfanelle” ohneAntwort auf die Frage,wohin gehören wir. Mühsam richten sie sich im “neuen” Leben ein.

Zuletzt fragt Michael Frank Stella Levi, was sie ihren Kindern sagen würde, “die geboren werden, nachdem all die Überlebenden gestorben sind.” Sie gibt eine Antwort, die das ganze Buch – ohne zu moralisieren – bezeugt wird, und in unserer Welt ernster genommen werden sollte als je:

“Ich würde sagen: Hasse keinen anderen Menschen. Warum solltest du einen anderen Menschen hassen? Weil er gemein ist oder weil er einen anderen Hintergrund hat als du? Weil sich sein Glaube von deinem unterscheidet?”

Titelbild

Michael Frank: Einhundert Samstage. Stella Levi und die Suche nach einer verlorenen Welt.
Übersetzt aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2023.
320 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783737101806

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