Musik schauen besser verstehen

Wovon erzählt der Musikfilm, wenn er von Musik erzählt? In ihrer Dissertation beschäftigt sich Christiane Meiser mit der entstehenden Konfrontation der Medialitäten

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie haben großen Stars oder Genres ein Denkmal gesetzt, bestimmten Instrumenten und regionalen Szenen einen weltweiten Hype verpasst oder die Faszination der Stars-Fan-Beziehung beleuchtet: Musikfilme haben große Wirkung und erfreuen sich ebenso großer Beliebtheit. Das trifft sowohl auf Biopics zu wie auf Revue-Filme im Musical-Stil oder Dokumentationen. In der Filmwissenschaft sowie in der journalistisch-medialen Öffentlichkeit kommt diesem Genre jedoch kaum Aufmerksamkeit zu.

Die studierte Germanistik-, Theater- und Musik- sowie Medienkulturwissenschaftlerin Christiane Meiser ändert dies. Sie interessiert sich in ihrer Dissertation vor allem für einen speziellen Aspekt dieser Filmgattung: die Tatsache, dass eine visuelle Repräsentation – die das Medium Film schließlich bedingt – bei Musik nur mithilfe von Verweisen funktioniert, die „Darstellung von Musik den Film somit in seiner eigenen Medialität herausfordert“. Das Medium Film setze Musik intradiegetisch ein, so dass eine Konfrontation der beiden Medialitäten entstehe. Das bewirke, so die Autorin, eine „genuine Erzähldisposition“.

Weitere Erkenntnis: die kinematographischen und narrativen Operationalisierungen generieren in der Interpretation einen filmisch erzeugten Bedeutungsüberschuss, der sich mit dem Soziologen Günter Thomas (der sich wiederum auf Thomas Luckmann bezieht) als „implizit religiös“ beschreiben lässt. Laut Thomas geht es dabei um Phänomene und religiöse Dimensionen jenseits der traditionellen und institutionellen Religionen. Religiöses Erleben ist demnach im Alltag, also zum Beispiel im Sport, in der Musik oder in der Werbung möglich. Implizite Religion, so Thomas, definiere sich gerade dadurch, dass die beteiligten Subjekte dies nicht als Religion beschreiben. Die Mediendifferenz, also im Film von Musik zu erzählen, bedeutet in der Argumentation Meisers, von einer transzendenten Erfahrung zu erzählen – und zwar auch ganz ohne religiöses System. Vor dem Hintergrund der Diskurse um die Postsäkularisierung wird der Gegenstand Musikfilm somit im vorliegenden Band medien- und filmtheoretisch neu gedacht. Die Forschungsfrage ihrer Arbeit formuliert sie so: Wie können Religion und religiöse Erfahrung in der diffizilen Ambivalenz, die der Diskurs der Postsäkularisierung mit all seinen widersprüchlichen Tendenzen in sich trägt, erzählt und filmisch inszeniert werden?Und wenn man sich zu Beginn auch fragen mag, warum Meiser ausgerechnet dieses Erkenntnisinteresse beim bislang sträflich vernachlässigten Genre Musikfilm wählt, so entpuppt sich ihr Ansatz im Verlauf der Lektüre doch als äußerst fruchtbar.

Antworten auf ihre übergeordnete Frage nähert sich Meiser in fünf Über- und 41 Unterkapiteln auf 350 Seiten. Dabei spannt sie den Bogen von der Einordnung des Forschungsstandes zum Bereich „Religion und Film“ über eine soziologische Zustandsbeschreibung der Gegenwart als Postsäkularisierung und die implizite Religion in der filmwissenschaftlichen Rezeption bis hin zu Ausführungen über ästhetische Erfahrungen und historische Voraussetzungen von Kunstreligion und die mediale Spezifik des Musikfilms. Methodisch stützt sich Meiser vor allem auf die Auswertung einer stattlichen Anzahl an Quellen. Die Autorin zeigt ein tiefes Verständnis für sowohl die filmische als auch die musikalische Dimension, was ihrer Arbeit Gewicht verleiht. Meiser präsentiert ein reichhaltiges Spektrum an Theorien und Ansätzen aus den Bereichen der Filmwissenschaft, Musiktheorie und Religionsforschung, die ihre Analysen fundieren.

Etwas weniger überzeugend gerät die Arbeit, wenn Meiser ihr entwickeltes Modell am Beispiel des Films „Bohemian Rhapysody“ zu erklären versucht. Hierzu werden ausgewählte Szenen ganz im Sinne ihrer Argumentation beschrieben und interpretiert. Inwiefern ihre Argumentation auch auf Musikfilme anderen Inhalts anzuwenden sind, bleibt dabei offen. Wenn Meiser etwa Freddies „besondere Ausstrahlungskraft“ ausgestellt sieht oder die Performance von „We are the Champions“ beim Live Aid-Auftritt beschreibt und „in dem Innehalten, auch im instrumentalen Ausklang des Songs, (…) die Einmaligkeit und Außergewöhnlichkeit des Konzerts, aber auch dieser spezifischen musikalischen Performance erfasst“ sieht, könnte man zum Widerspruch neigen. So werden derartige Momente in Pop-Konzerten inzwischen in großem Umfang dramaturgisch provoziert. Von Einzigartigkeit kann hier also keine Rede sein. Und muss es auch nicht, da Einzigartigkeit kein Kriterium implizit religiöser Praktiken ist. Und auch die Frage, inwieweit die hier angeführten Beispiele verallgemeinerbar sind, bleibt (natürlich) offen. Doch das ist keine Kritik. Denn „Implizite Religion im Musikfilm“ bietet eine zweifelsfrei wertvolle Zusammenstellung von Forschungsergebnissen und Theorien, die sich mit der Interaktion zwischen Musik und Film – vor allem der entstehenden Konfrontation der Medialitäten vor dem Hintergrund der Postsäkularisierungsdiskurse – befassen. Die Autorin liefert eine hohe Faktendichte und eine sorgfältige Literaturrecherche, die das Buch zu einer wertvollen Ressource machen. Dass sie zudem eine weitere Metaebene öffnet (immerhin verfasst sie einen Text über Musik im Film), sei nur eine Randbemerkung.

Titelbild

Christiane Meiser: Implizite Religion im Musikfilm. Eine Analyse der Medialität von Musik im Film.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2023.
350 Seiten , 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783826077661

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