Stimmen der Dichter
Dirk von Petersdorff hat den „Ewigen Brunnen“ neu herausgegeben
Von Lutz Hagestedt
Tief sind die Brunnen der Vergangenheit, und mit Brunnengedichten könnte man sicherlich eine eigene Anthologie füllen. Aber sind sie auch „ewig“, im Sinne von unvergänglich? Oder geht die Zeit über sie hinweg?
Manche Brunnen fallen trocken, so mancher Eimer, der heraufgezogen wird, enthält Brackwasser. Daher müssen immer neue Tiefenbohrungen erfolgen, um unseren Durst nach Poesie frisch zu stillen.
Die Neuausgabe des ,klassischen‘ Kanons von Ludwig Reiners (Erstausgabe 1955) besorgte der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Dirk von Petersdorff, der damit die Nachfolge Albert von Schirndings angetreten hat.
Der Ewige Brunnen ist – unglücklicherweise – seit jeher in Themengebiete unterteilt, was die einzelnen Gedichte in ihrer Bedeutung verkürzt und zu seltsamen Rubrizierungen führt – Rilkes „Der Panther“ ein Naturgedicht? –, aber auch interessante Paarbildungen erlaubt.
Herausgeber Petersdorff hat praktisch alle Kapitel umbenannt und teils auch völlig neu aufgestellt. „Am Turme“, ein berühmtes Gedicht Annette von Droste-Hülshoffs, das früher – und zwar durchaus spannungsvoll – in die Rubrik „Buch der Natur“ einsortiert worden war, eröffnet nun die neue Leitunterscheidung „Frau sein, Mann sein?“, die offenbar zur Disposition steht. Eine gute Entscheidung, wie ich finde, weil sie die Modernität der Droste erfahrbar macht, einer Dichterin, die in keiner Anthologie von Rang fehlen darf. Überhaupt müssen Frauen in diese Männerdomäne stärker einrücken, müssen auch queere Dispositionen erfahrbar werden, will man aktuelle Trends abbilden und heutigen Lesern einen Spiegel des Möglichen und Wirklichen vorhalten. Gut vertreten sind hier bunte Gestalten wie Else Lasker-Schüler (meines Erachtens die bedeutendste Lyrikerin des 20. Jahrhunderts), geniale Stimmen wie Anna Louisa Karsch (1722–1791) und Ingeborg Bachmann (1926–1973), aber auch Minderdichterinnen wie Hilde Domin, Elke Erb oder Dagmar Nick. Letztere wurde von Petersdorffs Vorgänger lanciert, hat sich im Kanon aber nie so recht durchsetzen können. Ein Gedicht von ihr, „Überlegung“, ist noch verblieben, es wäre noch verzichtbar, scheint mir. Größere Überzeugungskraft entwickeln die Gedichte von Christine Lavant, Sarah Kirsch oder Marie Luise Kaschnitz.
Man erinnert den Begründer dieser Anthologie, Ludwig Reiners (1896–1957), als (zu) konservativen Stilkritiker vielleicht, seine biedere „Deutsche Stilkunst“ (1943) war streckenweise nachgerade borniert. Diese Handschrift lässt sich auch hier nicht leugnen, und es entspricht wohl auch dem – pardon – „Wesen“ der „Großgattung“ (Hans Braam) Anthologie, konservativ zu sein und (weitgehend) nur dasjenige zu berücksichtigen, das sich bereits bewährt hat. Jede Anthologie verfügt neben ihrem Standbein aber auch über ein Spielbein, das mit vorsichtigen Sondierungen das Terrain des Neuen und Unerhörten erkundet. Popsongs, Unsinnspoesie, Thomas Kling, Schnoddriges von Hans Magnus Enzensberger, geschmacklich Heikles und politisch Korrektes säumen den herausgeberischen Pfad: „Denn jeder Herausgeber ist von seiner Zeit und deren Vorlieben geprägt“ (Vorwort), aber auch gesellschaftlich Zwingendes muss Berücksichtigung finden: „Signifikant höher ist die Zahl der Autorinnen, denn hier galt es, Ungleichgewichte einer männlich dominierten Literaturgeschichtsschreibung wenigstens ansatzweise auszugleichen.“
Außerdem war das nationale, bisweilen völkische Moment zurückzudrängen, wohingegen „jüdische Autoren, die auf Deutsch veröffentlicht haben, jetzt öfter zu lesen“ sind. Der Zeitgeist schlägt auch beim „Verzeichnis der Dichter“ durch – es heißt jetzt „Register der Autorinnen und Autoren“.
Die ersten drei Namen von einst (Abraham a Santa Clara, Willibald Alexis und Hermann Ludwig Allmers) sind entfallen – und damit teils wunderliche, teils martialische, allesamt entbehrliche Gedichte. Auch Ernst Moritz Arndt hat endgültig verschissen: Er war im 19. Jahrhundert eine sichere Bank der national gesinnten Anthologistik und in der Nachkriegszeit immerhin noch mit seiner politisch unverdächtigen „Klage um den kleinen Jakob“ vertreten gewesen. Sein Ausscheiden macht auch den Verlust an „historischer Substanz“ deutlich (wie Ernst Jünger formulieren würde), will sagen: Eine Anthologie ist ja immer auch ein Durchgang durch unterschiedliche Befindlichkeiten, Geschmäcker und Vorlieben, und wenn da einzelne Farben und Stimmen fehlen, fehlen auch Sedimente des – metaphorisch gesprochen – Gewachsenen, einst Etablierten.
Unter den Jüngeren ist Nico Bleutge nachgerückt, „Klare Konturen“ heißt sein Fünfzeiler, der sich inhaltlich und graphisch, semantisch wie optisch-visuell vor dem (geistigen) Auge des Betrachters „auffaltet“. Darüber, auf derselben Seite, ein Gedicht Robert Gernhardts („Doppelte Begegnung am Strand von Sperlonga“), das deutlich macht, wie wenig Sinn Herausgeber Albert von Schirnding für die komische Muse hatte – sie rückt jetzt mit Christian Maintz („Liebe in Lokalen“) und Kurt Schwitters („So, so! –“) nach und gesellt sich Wolfgang Werth (!) zu:
„Schottische Begebenheit“
In Glasgow, beim Karottenschaben,
bemerkten sieben Schotten Raben,
die, angetan mit Schattenroben,
in ihre Schnäbel Ratten schoben.
Damit wird Dichtung aus unseren Kreisen erfahrbar, die vielleicht nicht unbedingt den Höhenkamm (nach alter Vorstellung) repräsentiert, doch einen frischen Wind ins Verstaubte, ja Abgestandene zu bringen vermag. Freilich vermisse ich F. W. Bernstein sowie das vielleicht berühmteste Gedicht literarischer Hochkomik, Loriots „Advent“ („Es blaut die Nacht, die Sternlein blinken“). Doch weiß ich aus eigener Erfahrung, dass es wohl fast unmöglich ist, der Rechte an diesem Gedicht habhaft zu werden. Andere Autoren (Wondratschek!) waren anderen Herausgebern (Conradi!) zu teuer: hier jedoch hat das Kostenargument augenscheinlich keine Rolle gespielt. Unverzeihlich ist nach meinem Dafürhalten das Fehlen Uwe Dicks, Ralf Theniors oder Paul Wührs. Nicht durchsetzen konnte sich hier Thomas Bernhard, verzichtbar wäre – meines Erachtens – Günter Grass. Von namhaften Autoren in Moderne und Gegenwart haben wir keine erprobte Lyrik – doch haben wir Dichtergedichte auf sie: auf Thomas Mann („Kilchberg“ von Heinrich Detering) oder auf Friedrich Nietzsche (von Stefan George). Hier hätte Joseph Berlinger Genialisches zu bieten gehabt!
Liedgut rückte nach, von Udo Lindenberg beispielsweise („Sonderzug nach Pankow“) oder Sven Regener („Am Ende denk ich immer nur an dich“) sowie auch Judith Holofernes („Denkmal“).
Viel müdes, langweiliges Zeug ist erhalten geblieben, beispielsweise „Der alte Brunnen“ von Hans Carossa. Man fühlt sich an ein Wort Walter Kempowskis erinnert:
In der Nacht hörte ich mir ‚Stimmen der Dichter‘ an (eine Produktion des ‚Zeit‘-Magazins). Recht unerträglich die Lyriker. Dieser jammerige Singsang und, man stelle sich vor: ‚Millionen Nachtigallen schlagen…‘ Was das für ein Lärm ist. […] Zuerst Anna Seghers, kaum zu verstehen, eine Foltersache aus dem ‚Siebten Kreuz‘. Ich weiß nicht, ob eine so genaue Schilderung der Prozedur nicht auf ein besonderes Interesse schließen läßt? – Danach der unerträgliche Carossa mit einem Brunnengedicht, mit besonnter Stimme las er. Und so etwas bietet er seinen Hörern im Jahr 1947! Ein besonders ekelhafter Fall von Verdrängung.
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