Die Überlebenden und die Nachlebenden
Der zum runden Geburtstagsjubiläum herausgegebene Band „Geronnene Lava“ verbindet Texte Reinhart Kosellecks zum ästhetischen politischen und kulturellen Totengedenken mit individuellen, unveröffentlichten Texten zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg
Von Stephan Wolting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseZu Kosellecks 100. Geburtstags am 23.04.2023 ist im April eine aufschlussreiche Sammlung wichtiger, zum Teil unveröffentlichter Texte von ihm erschienen. Dabei geht es in erster Linie um ein Thema, mit dem sich Koselleck ein Leben lang beschäftigt hat, obwohl es im Zusammenhang mit seinem Werk nicht so stark an die Öffentlichkeit gedrungen ist. Es handelt sich um politischen Totenkult,die Erinnerung und das Gedenken an gewaltsame Tode.
Reinhart Koselleck machte sich als Historiker und Theoretiker einen Namen. Er lehrte zur gleichen Zeit wie unter anderem Niklas Luhmann und Karl Heinz Bohrer an der Universität Bielefeld. Über Jahrzehnte hinweg hat er nicht nur zahlreiche Quellen zu Totenkulten gesammelt, sondern 30.000 Abbildungen von Denkmälern zusammengetragen, von denen eine kleine repräsentative Auswahl im Band abgedruckt ist. Er beschäftigte sich darüber hinaus unter anderem mit kontrastiven Untersuchungen zum politischen Totenkult, etwa bezogen auf Deutschland in Frankreich. Zudem machte er sich Gedanken dazu, wie dem Holocaust zu gedenken sei, vor allem in Bezug auf das Holocaust-Denkmal oder auf die Neue Wache in Berlin. Dabei hat er das politische Totengedenken als eine bürgerliche Institution bezeichnet, die sehr viel über die jeweilige Kultur selbst aussagt. Er hat unter anderem für Deutschland die Forderung erhoben, dass man weniger ein Opfer- als ein Tätergedenken entwickeln sollte.
Der hier vorliegende Band setzt darüber hinaus noch weitere Schwerpunkte. Er ist in vier Teile gegliedert. Der erste Teil besteht aus historischen Analysen zum politischen Totenkult und zur Ikonologie. Der zweiten Teil stellt gesammelte Schriften zur bundesrepublikanischen Denkmalkultur und Kontroversen dar. Der dritte Teil heißt: „Die Subjektivität und Diskontinuität von Erinnerung“. Darin wird seine nicht affirmative Haltung gegen die Verbindung von individuellem Erinnern und kollektivem Gedächtnis deutlich, wofür er ja unter anderem, insbesondere mit seiner Kritik an letzterem, an die Öffentlich gegangen ist. Und schließlich heißt der vierte Teil so wie das Werk selbst: “Geronnene Lava”. Der letzte Teil besteht aus autobiografischen Notizen mit zum Teil von ihm selbst unveröffentlichten Texten: Erinnerungstexte zu Krieg, Gefangennahme, Arbeitslager oder Heimkehr. Die Herausgeberinnen Ariana Markantonatos, Manfred Hettling und Hubert Locher setzen, allen voran in Person Manfred Hettlings mit seinem Nachwort, ein wichtiges Zeichen zur Bedeutung der von Koselleck aufgeworfenen Diskussionen.
Der Band besteht nicht nur aus Kosellecks Texten, sondern zugleich aus Interviews, die er gegeben hat. Zu Lebzeiten galt er als eine bedeutende Person des öffentlichen Lebens in der Bundesrepublik Deutschland. Umso mehr überrascht es, wie er selbst eingesteht, dass viele seiner Initiativen zu Denkmälern, zur politischen Gedenkkultur in der Bundesrepublik Deutschland doch nicht die Resonanz erfuhren, wie man es vielleicht erwartet hätte. Man denke etwa an die Auseinandersetzungen mit Ignatz Bubis oder mit Lea Rosh und der Frage, inwieweit vor allem den ermordeten Juden oder allen Opfern zu gedenken sei.
Ein zentrales Moment durchzieht diese Texte, das Koselleck auch außerhalb der Historikerzunft als Theoretiker bekannt gemacht hat: der Gegensatz von individuellen Erinnerungen und kollektivem Gedächtnis – er behauptete, es ließe sich im strengen Sinne nicht von einem kollektiven Gedächtnis sprechen.
In einer Zeit, wo durch den Ukraine Krieg diese Herausforderungen des Gedenkens gewaltsamer Tode wieder andrängender geworden sind, sind Kosellecks Beiträge als differenzierte und warnende Stimme nötiger denn je. Nach Koselleck gehöre, den Toten zu gedenken, zur menschlichen Kultur, das Gedenken der Gefallenen und des Kriegs bzw. Bürgerkriegs oder der durch staatliche Gewalt getöteten Zivilisten zur politischen Kultur. Kosellecks Schriften und Überlegungen liefern einen wichtigen Beitrag zur heutigen politischen Kultur und Diskussion.
Eine ebenfalls sehr wichtige Facette seines Denkens betraf immer auch die ästhetische Frage: Wie kann überhaupt menschlicher Tod, und dazu eben noch gewaltsamer menschlicher Tod dargestellt werden, wo der Tod sich doch jeder menschlichen Erfahrbarkeit entzieht? Der Mensch selbst kann also nur den Tod der anderen erleben. Sehr früh fragte Koselleck nach den Grenzen der Darstellbarkeit des gewaltsamen Todes im bildlichen Medium. Er bezog sich dabei vor allen Dingen auf Max Imdals (1925-1988) Begriff und Methode der Ikonik. Dabei ging es um die impliziten Deutungsimplikationen gewählter Symbole, wie sie sich „aus ikonographischen und ikonologischen Traditionen und Mustern ergeben“ sowie der Frage der Metaphorik. Nach dieser Vorstellung entwickelt ein Kunstwerk selbst bildimmanente Verweise und Hinweise, die durch “Augenarbeit” offengelegt werden können.
Was an dem Werk besonders heraussticht, und insofern betritt es damit Neuland, sind seine Aufzeichnungen aus dem Krieg und seine Auslassungen dazu. Auch in seinem eigenen Leben zeigt sich der Widerspruch von begrifflichem Erfassen und eigener Anschauung: Auf der einen Seite fordert er ein Tätergedenken der Deutschen und zugleich weist er darauf hin, dass der Name Auschwitz für ihn erst ein Begriff wurde, als er selbst in Auschwitz war, also erst als Wehrmachtssoldat im Zweiten Weltkrieg 1945. Er blieb bis Herbst 1946 in russischer Kriegsgefangenschaft. Diese Erlebnisse bilden einen persönlichen Erfahrungsraum des permanent möglichen Umgebrachtwerdens und des Umkommens der anderen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse führen über seine individuelle Erfahrung weit hinaus.
Ein zentraler Satz Kosellecks lautet, dass das, was als historische Wahrheit gesucht, gefunden und dargestellt wird, nie allein von den Erfahrungen abhängt, die ein Historiker macht und ebenso wenig allein von den wissenschaftlichen Methoden, denn beide verweisen aufeinander: „Diese Verschränkung von Erfahrung und begrifflichen Kategorien ist nicht nur für jede sprachliche Verständigung über Wirklichkeit, sondern auch für die visuelle Darstellbarkeit von Wirklichkeit konstitutiv. Hier stehen Historik und Ikonologie auf demselben Grund.” Die Wechselwirkung von persönlichem Erinnern und diskursivem theoretischem Ge- und Bedenken durchzieht alle seine Texte.
Die begriffliche Verfasstheit, mit der jeder einzelne Gewalterlebnisse erfährt, ist zwar vorgegeben und typisch analysierbar zugleich, sie bleibt aber stets individuell und kann durch das Leben verändert werden. Umgekehrt hat Koselleck sich in den 90er Jahren kritisch gegen jegliche Normierung von Erinnerung und kollektive Konstruktionen der deutschen Gedenkkultur gestellt und sich gegen eine Geringschätzung dieser Erlebnisse und Erfahrungsdimensionen gewendet. Es gibt dazu von ihm den schönen Satz: „Erfahrungen besitzen gewissermaßen ein Vetorecht gegenüber den Identitätsstiftung der Überlebenden wie der Nachgeborenen”. Und dieser Gegensatz zwischen der Erfahrung von Gewalt einerseits und ihrer Darstellung andererseits bleibt seiner Ansicht nach unüberwindbar.
Die Titel der (Vor- und) Beiträge sind zum Teil so gut gewählt, dass sie die Stoßrichtung, die eingangs erwähnt wurde, bereits deutlich machen: Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, Daumier und der Tod, Der politische Totenkult, Vom dynastischen zum nationalen Totenkult, Der unbekannte Soldat als Nationalsymbol im Blick auf Reiterdenkmale usw. Eine interessante Betrachtung Kosellecks sei hier noch erwähnt, die den Unterschied von Denkmal in demokratischen Zeiten und zur Zeit des Absolutismus betont: In Bezug auf das Denkmal vom Unbekannten Soldaten heißt es bei ihm: „Es gibt ein Kennzeichen des neuzeitlichen Totenkultes, dass der gewaltsam herbeigeführte Tod von Millionen Menschen zur Legitimation der Staaten und ihrer jeweiligen verwendet wird.” Die Verbindung von Opfer, Soldat und Bürger gehört zum Gründungsmythos demokratischer Staaten, paradoxerweise ist der monarchische Totenkult nach Koselleck gewaltfrei. Später wird es dann noch zur Verbindung des Gedankens des Unbekannten Soldaten mit Personen der jeweiligen Nationalgeschichte zumindest in ganz Europa kommen, um die Identität dieser Staaten quasi vom Opfergedenken herzustellen.
Der Band kommt zu dieser Zeit gerade richtig. Er bringt zum einen die Auffrischung schon bekannter Ergebnisse und Resultate von Kosellecks wissenschaftlichem Schaffen und seinen Erkenntnissen. Zum anderen wird das Werk hier ergänzt um bislang unbekannte Fallbeschreibungen aus seiner Erfahrung, die er persönlich gemacht hat. Das ist weder einseitig im Sinne der individuellen Erinnerung noch des kollektiven Gedenkens zu sehen. Eine der Hauptaufgaben von Kosellecks Vermächtnis stellt sich folgendermaßen: Müssen wir Nachgeborene nicht uns heute gerade dieser Aufgabe des kritischen Gedenkens und Erinnerns in dieser problematischen Zeit wieder stellen? Dazu einen Beitrag geleistet zu haben, ist das Verdienst der Herausgeberin und der Herausgeber dieses Bandes.
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