Gerade weil sie so verschieden sind
In „Gerechtigkeit für Tiere – Unsere kollektive Verantwortung“ plädiert Martha Nussbaum für den artspezifischen Umgang mit tierlichen Belangen
Von Dafni Tokas
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWer immer noch ernsthaft anzweifelt, dass viele – wenn nicht alle – Tiere fühlen und denken können, lebt in einer langweiligen, deprimierenden und übrigens auch ziemlich unwahrscheinlichen Welt. Kein Wunder, dass dieselben Leute oft davon träumen, auf den Mars zu fliegen und dort zu leben. Selbstverständlich wird die Erde uninteressant, wenn dort das einzig spannende Wesen der Mensch zu sein scheint. So würde es wohl auch die berühmte Philosophin, Ethik- und Rechtswissenschaftsprofessorin Martha C. Nussbaum sehen. Sie schreibt in ihrer Neuerscheinung Gerechtigkeit für Tiere nämlich Folgendes: „Ich glaube, wir alle müssen die Fähigkeit des Staunens in uns erwecken. Das Staunen ist die eine große Emotion, die sich nicht auf uns selbst bezieht, sie richtet sich nach außen, auf etwas, was ganz anders ist als wir.“ Und das sind, unter anderem, die Tiere.
Ökologische und tierethische Fragen sind allerdings immer mehr hinter anderen großen Problemen wie dem der Pandemie, des Krieges und der Weltwirtschaft verschwunden. Und mitten im explodierenden KI- und Digitalisierungswahn über die Sorgen unserer tierischen Mitgeschöpfe zu schreiben, erscheint wenig strategisch, wenn man auf der Welle des Zeitgeistes reiten will. Martha Nussbaum macht es trotzdem. Während es die meisten Menschen vor allem interessiert, ob ChatGPT irgendwann einmal Gefühle haben wird, weist Nussbaum noch einmalund beharrlich darauf hin, wie es eigentlich den Tieren in Mastanlagen und Schlachthäusern geht, die wir gern vergessen.
Sie setzt sich in ihrem Buch kritisch mit verschiedenen Strömungen der Tierethik auseinander, weitet ihren Fähigkeiten-Ansatz auf die Tierwelt aus und appelliert an das menschliche Verantwortungsbewusstsein. Sie spricht von einer kollektiven menschlichen Pflicht gegenüber den Tieren und der Natur. Hier geht es nicht einfach nur um Theorie im Elfenbeinturm, sondern um konkrete Handlungen in der Politik und um Veränderungen im Recht. Nussbaum fordert all dies nicht als Aktivistin ein, sondern als Wissenschaftlerin.
Ihr Buch zielt zunächst einmal darauf ab, eine juristische und moralische Grundlage zum Schutz nichtmenschlicher Tiere zu formulieren. Denn in immer größer werdender Zahl und Intensität werden Tiere in unserer Welt zu Opfern von Ungerechtigkeiten: Ihre Lebensräume werden zerstört, in der industriellen Nutztierhaltung werden sie ausgebeutet, und sogar unsere angeblich so geliebten Haustiere leiden allzu oft unter Vernachlässigung und Grausamkeit, vor denen niemand sie schützt – schon gar kein lasch formuliertes, willkürlich ausgelegtes Tierschutzgesetz. Neben allem, was Menschen einander bereits antun, steht die Misshandlung der Tiere. Und wenn wir rechtfertigen wollen, einen Menschen schlecht zu behandeln, so nennen wir ihn einfach Tier, als seien damit alle kritischen Stimmen getilgt. Das zeigt, wie eng die Unterdrückung von Menschen mit derjenigen der Tiere zusammenhängt.
Zu lösen ist das tierethische Problem nun, wie Nussbaum argumentiert, nicht einfach darüber, allen Tieren von nun an den gleichen Status zuzusprechen oder sie gar zu behandeln wie Menschen. Das Problem ist aber auch nicht dadurch zu lösen, Tiere einfach „in Ruhe zu lassen“ und ihnen schlichtweg kein Leid zuzufügen. Denn die Welt ist komplexer als das. Ein zweckorientierter philosophischer Ansatz reicht nicht aus, denn tierliche Bedürfnisse sind immer artspezifisch und hochindividuell. Außerdem entwickeln sie sich mit den Veränderungen in der Welt gemeinsam.
Das Leid der Tiere fängt, so Nussbaum, nicht dort an, wo wir Tieren Schmerz zufügen, sondern bereits dort, wo wir sie ihres natürlichen Lebens berauben. Alles an tierlichen Körpern und Psychologien ist aus millionenalter Entwicklung entstanden – nimmt man ihnen das Umfeld, das jeweils zu ihren natürlichen Fähigkeiten passt, zum Beispiel im Zoo, dann ist das bereits ein Schaden, den man dem Lebewesen zufügt. Ein gerechtes Miteinander von Mensch und Tier ist laut Nussbaum nicht aus anthropozentrischer Perspektive heraus herzustellen, sondern muss von den Tieren aus gedacht werden. Deren Bedürfnisse fangen nicht bei der Schmerzvermeidung an, sondern sind viel reicher und entwickelter als viele es sich vorstellen können.
Menschen, die sich für nichtmenschliche Tiere einsetzen, wird paradoxerweise vor allem eines in verschiedenen Varianten vorgeworfen: Tiere und Menschen über einen Kamm zu scheren, Tiere zu anthropomorphisieren oder sich sozialchauvinistisch für Wesen einzusetzen, die womöglich nicht viel mehr fühlen als Maschinen. Tatsächlich ist die Entwicklung in der zeitgenössischen Tiertheorie eine ganz andere. Bereits Bernd Ladwig hat in Politische Philosophie der Tierrechte (2020) durchaus realistische, artspezifische politische Betrachtungen für die Rechte der Tiere geliefert. Auch Sue Donaldsons und Wilson Kymlickas Zoopolis (2013) ging bereits in diese Richtung und betrachtet Tiere in ihrer artspezifischen Komplexität.
Nussbaum entwickelt diese Debatten weiter und problematisiert die Bedingungen der politischen Repräsentation von Natur und Tieren. Eine effektive ökologische Gesetzgebung würde idealerweise nicht einfach nur auf die Vermeidung von Schaden und Leid setzen, sondern auch auf die Förderung des Wohlergehens von Tieren und Natur. Das Buch ist, während dieses Argument entfaltet wird, auch sehr mutig: Die Theoretikerin scheut nicht den Aufruf zur Praxis, den sie eben gerade aus Gegebenheiten in der Welt ableitet und argumentiert. Sie räumt Tieren Klagerechte und politische Teilhabe ein, hält Freundschaften zwischen Menschen und Tieren für möglich und weist eine hierarchische Einteilung der Tierwelt zurück.
Denn Tiere sind nicht nur anders als Menschen, sondern auch untereinander verschieden – aber nicht einfach, weil manche Tiere besser als andere seien. Wer so denkt, stellt schnell Menschen an die Spitze und lässt nur jene Tiere gewähren, die ihm ähneln. Aus der Ähnlichkeit zwischen Menschen und anderen Tieren heraus ethisch zu argumentieren, reicht Nussbaum deshalb nicht: Gerade weil jedes Lebewesen mindestens aus seiner artspezifischen Beschaffenheit heraus in der Welt existiert und zu überleben versucht, gilt es, diese Differenzen genauer zu untersuchen und zu berücksichtigen. Mit Derrida gesprochen gilt es nicht, die Unterschiede aufzuheben, sondern die Differenz noch weiter aufzufächern, zu untersuchen, sie ernst zu nehmen. Das trennt uns nicht von den Tieren, sondern macht uns ihr Da- und Sosein verständlicher. Erst dann können wir angemessen handeln.
Manch einem mögen die im Buch gemachten Vorschläge zu radikal vorkommen. Aber wo wäre die Philosophie, wenn sie nicht auch alles aussprechen dürfte, was denkbar wäre? Tiere sollten, so Nussbaum, die Möglichkeit haben, ihre Fähigkeiten zu entfalten und sich zu entwickeln. Denkt man Nussbaums provozierendes Argument zu Ende, ist durchaus etwas dran: Momentan hält der Mensch nicht nur das Wohlergeben, sondern auch die Evolution anderer Tierarten fast vollständig zurück und schneidert sie nach Maß auf seine eigenen Bedürfnisse zu. In Wahrheit kann sich so niemand entfalten – der Mensch übrigens auch nicht.
Vielleicht kommt eine Zeit, in der wir einen Marienkäfer mit der gleichen Ehrfurcht, dem gleichen Staunen ansehen, mit dem wir momentan nur KI-Kunst und mögliche Marsbesiedlungen betrachten. Nussbaum würde es sich wünschen. Bis dahin müssen aber wahrscheinlich noch viele tiertheoretische Bücher dieser Art geschrieben – und gelesen werden. Dieses jedenfalls empfiehlt sich vorbehaltlos.
|
||