Just another Tuesday im Patriarchat
Nathalie Masduraud und Valérie Urrea machen in ihrem Projekt „H24“ in Kooperation mit ARTE eindrücklich auf die Alltäglichkeit von Gewalt gegen Frauen aufmerksam – anhand der vierundzwanzig Stunden eines Tages
Von Franziska Rauh
Stefan Zweigs Novelle Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau, erstmals 1927 in seiner Novellensammlung Verwirrung der Gefühle veröffentlicht, ist eine idealtypische Vertreterin ihrer Gattung in der Tradition Boccaccios. Im Mittelpunkt des Textes steht ein außergewöhnliches Ereignis, die berühmte Goethesche „unerhörte Begebenheit“[1]: Eine Frau „mit tadellos verbrachtem Leben“[2] und jenseits des Alters jugendlichen Leichtsinns begegnet in einem Casino in Monte Carlo einem jungen Mann, der sich das Leben nehmen will, nachdem er sein Geld (und das diverser Verwandter) verspielt hat. Ohne dass sie so recht weiß, wie ihr geschieht, verbringt sie die Nacht und den darauffolgenden Tag mit ihm und nimmt ihm das Versprechen ab, nicht mehr zu spielen. In einer wunderbar novellistischen Wende findet sie ihn am Abend dieses gemeinsamen Tages, als sie in einem coup de foudre bereit ist, ihr ganzes wohlgeordnetes Leben für ihn aufzugeben und mit ihm durchzubrennen, am Roulettetisch wieder: Er hat das Geld, das sie ihm zur Bezahlung seiner Schulden und für die Heimreise gegeben hatte, erneut verloren – genau vierundzwanzig Stunden nach ihrer ersten Begegnung.
Zweigs Novelle leitet die Frage: Ist es möglich, dass vierundzwanzig Stunden genügen, um eine „untadelige Frau“ zu bewegen, ihre Angehörigen und ihre Gewohnheiten zu verlassen und „einem wildfremden jungen Elegant auf das Geratewohl zu folgen“ (328–29)? Können „vierundzwanzig Stunden das Schicksal einer Frau vollkommen bestimmen“ (396)? Nur am Rande geht es dabei um die Themen Anstand, Treue und die Verantwortung einer Frau gegenüber ihrer Familie. Ganz gattungstypisch ist Zweigs Novelle vor allem eines: eine Inszenierung des Ungewöhnlichen, Außerordentlichen, Einmaligen, des „kataraktisch Unerwartete[n]“ (373), dessen, was „nie vordem, nie nachdem“ (386) geschieht, „von bloß vierundzwanzig Stunden innerhalb von siebenundsechzig Jahren“ (338).
Zweigs Novelle teilt ihren Titel seit 2021 mit einem eindrücklichen Projekt der Dokumentarfilmerinnen Nathalie Masduraud und Valérie Urrea, das diese in Kooperation mit ARTE realisiert haben: H24 – 24 heures dans la vie d’une femme ist der Titel eines Bandes mit vierundzwanzig Texten vierundzwanzig verschiedener Autorinnen sowie einer zugehörigen Serie von Kurzfilmen, die in der ARTE-Mediathek zugänglich ist. Im Gegensatz zu Zweigs Novelle geht es in den Texten des Projekts H24 gerade nicht um das Außergewöhnliche, Unerhörte – sondern um das Gewöhnliche, Alltägliche: den ‚gewöhnlichen Sexismus‘,[3] die alltägliche Gewalt gegen Frauen. Wenn es bei Zweig um vierundzwanzig Stunden geht, die aus dem Leben einer Frau herausragen, geht es bei H24 darum, vierundzwanzig typische Stunden im Leben einer Frau zu zeigen, Situationen darzustellen, die repräsentativ dafür sind, „ce que vivent les femmes au quotidien“ (7) – ‚was Frauen im Alltag erleben‘.
8 Uhr: Eine Rezeptionistin wird von ihrem Arbeitgeber nach Hause geschickt, weil sie sich weigert, High Heels zu tragen. 9 Uhr: Eine Mutter rächt ihre Tochter, die sich das Leben genommen hat, nachdem gegen ihren Willen ein Sex-Video von ihr ins Internet gestellt worden ist. 10 Uhr: Eine Schülerin versucht, sich gegen die Annäherungen ihres Musiklehrers zu wehren, ohne unhöflich zu sein. 11 Uhr: Eine Frau wird von ihrem Ehemann misshandelt – und muss vom Gerichtsvollzieher den Räumungsbescheid wegen Ruhestörung entgegennehmen. 12 Uhr: Die Mitarbeiterin eines Fastfood-Drive-In interveniert, als ein Mann auf dem Parkplatz seine Frau schlägt.
Vierundzwanzig Begebenheiten für vierundzwanzig Stunden eines Tages, erzählt von vierundzwanzig europäischen Autorinnen – das ist also die Leitidee von H24. Die Autorinnen, unter ihnen Alice Zeniter, Myriam Leroy, Agnès Desarthe, Angela Lehner und Siri Hustvedt, stammen aus elf verschiedenen Ländern und schreiben in zehn verschiedenen Sprachen, aus denen die Texte für den Band ins Französische übersetzt wurden. Verbunden werden die Beiträge nicht nur durch die Zuordnung zu den Stunden eines Tages, sondern auch durch formale Vorgaben: jeweils Einheit von Zeit und Ort, Ich-Form, knapper Umfang (je zwei bis drei Druckseiten im sehr schmalen Format des Bandes). Und: ein Ausgangspunkt in der Realität. Jede der Episoden, das betonen die Herausgeberinnen im Vorwort des Bandes und ein Schriftzug am Ende jedes Kurzfilms, basiert auf einer realen Begebenheit.
Die Realität der Gewalt gegen Frauen ist der Anlass des Projekts, genauer gesagt: die Wut angesichts dieser Realität und der geringen Aufmerksamkeit, die diese erfährt. „Comment cette tragédie a-t-elle pu devenir un ‚fait divers‘? un acte du quotidien?“ (14) – ‚Wie konnte eine solche Tragödie zu einer Meldung unter Vermischtes werden? Zu einer Alltäglichkeit?‘, lautet die zornige Ausgangsfrage der Herausgeberinnen anlässlich einer Zeitungsmeldung über eine Frau, die von ihrem Partner aus dem Fenster gestoßen wurde. Eine Frau verlässt Mann und Kinder? Ein Skandal, einer Novelle würdig! Eine Frau wird von ihrem Partner misshandelt? Just another Tuesday im Patriarchat, wo, betrachtet man Deutschland im Jahr 2020, täglich ein Mann versucht, seine (Ex-)Partnerin zu töten; an jedem dritten Tag wird der Femizid vollendet.
Es geht bei H24 also nicht um vierundzwanzig „exercices de style“ (16), das machen die Herausgeberinnen sehr deutlich. Es geht darum, den anonymen Frauen hinter den Zeitungsmeldungen eine Stimme zu geben. H24 ist ganz explizit engagierte Literatur (und das im besten Sinne): „un livre coup de poing“ (7), das auf die ihm zugrunde liegende Realität zurückverweist, das sichtbar machen will. Nicht zufällig ist der Band in der Reihe Manifestes des Verlags Actes Sud erschienen. Die Herausgeberinnen bezeichnen ihre Textsammlung als „geste politique“, als „mise en garde“ (16): Für sie sind die vierundzwanzig Monologe eine ‚neue Art des Aktivismus‘, ein ‚kollektives Engagement‘ mit dem Ziel der Herausbildung einer ‚feministischen Internationalen‘ (16–17). Warum wählen sie dafür das Mittel der Literatur? Die ‚Freiheit der Fiktion‘‚ so lässt sich dem Vorwort entnehmen, erlaubt es, den ‚neutralen Ton‘ der journalistischen Meldungen zu verlassen (15). Sie lässt die Eindrücklichkeit der Ich-Form auch da zu, wo die Betroffenen selbst nicht (mehr) sprechen können oder wollen. Und nicht zuletzt ermöglicht sie die Verdichtung, die den Texten von H24 ihre besondere Wucht gibt: Was normalerweise in zahllose Medienberichte verstreut ist, wird zusammengeführt zu einem einzigen fiktiven Tag, der gleichwohl so passiert sein könnte, vielleicht heute irgendwo so verläuft. Auf diese Weise lässt sich, so die Herausgeberinnen, etwas über das Universale der „condition féminine“ aussagen (17).
Wem das zu essentialistisch ist, der sei beruhigt: H24 macht keinen Versuch, die „condition féminine“ auszuformulieren. Und doch zeigt sich hier eine traditionsreiche Vorstellung von der Funktion der Literatur: dass sie das Allgemein-Menschliche (oder eben: das Allgemein-Weibliche) im Partikularen zu zeigen vermag. Gerade aus der Vielfalt der Texte erschließt sich die Universalität oder, vorsichtiger ausgedrückt, die breite Anschlussfähigkeit der geschilderten Erfahrungen. Die Texte lassen Frauen unterschiedlichster Altersgruppen, Berufe und Klassen zu Wort kommen, in Monologen, die ursprünglich auf Französisch, Finnisch, Englisch, Flämisch, Griechisch, Italienisch, Dänisch, Spanisch, Polnisch und Deutsch abgefasst sind. Es ist die Vielfalt der Stimmen und Perspektiven, die H24 so eindrücklich macht und die einen ‚düsteren Befund‘ (16) zeigt, den die Herausgeberinnen so formulieren:
Peu importe qu’elle vive à Versailles, à Manchester ou au Groenland, qu’elle soit cassière, ministre ou présentatrice, qu’elle ait à peine onze ans ou déjà l’âge d’être ta mère, qu’elle soit lesbienne, trans, bi ou super hétéro… être femme est toujours un ticket gagnant pour un supplément d’emmerdements. (14)
Egal, ob sie in Versailles, Manchester oder Grönland lebt, ob Kassiererin, Ministerin oder Nachrichtensprecherin, ob sie gerade mal elf Jahre alt ist oder deine Mutter sein könnte, ob lesbisch, trans, bi oder super-hetero… eine Frau zu sein, bedeutet immer, das große Los für eine Extraportion Schwierigkeiten gezogen zu haben.
Was den Frauen in H24 geschieht, geschieht eben nicht „nie vordem, nie nachdem“, sondern immer und immer wieder.
Zur Vielfalt der Texte gehört auch, dass ganz unterschiedlich gravierende Situationen nebeneinanderstehen: Tragische, tödliche Ereignisse wie die Ermordung einer Frau durch ihren Partner stehen neben Situationen, die im Vergleich als Kleinigkeiten erscheinen – wenn etwa ein Professor eine Jura-Studentin in der Diskussion ausbremst, indem er ihr ein Kompliment für ihre Frisur macht. Eine Stärke des Bandes besteht darin, dass er gerade auch den Situationen, in denen vermeintlich ‚nichts passiert‘ ist, Raum gibt: der Schülerin, die die nachdrückliche Aufforderung ihres Lehrers, mit zu ihm nach Hause zu kommen, abgelehnt hat – und der jetzt zum Heulen zumute ist, obwohl doch ‚nichts passiert‘ ist; dem Typen im Bus, der seiner Sitznachbarin Oralsex ‚nur‘ angeboten hat – aber doch eigentlich ‚nichts gemacht‘ hat. Immer wieder geht es dabei auch um die Verletzungen, die durch Sprache zugefügt werden können: Die Texte „Gloss“und „PLS“ zeigen, dass die Aussage „ce ne sont que des mots“ (63, 75) – ‚es sind ja nur Worte‘ – eben nicht angemessen ist: weder, wenn ein Mädchen in der Schule als „Nutte“ beschimpft wird, noch wenn eine Frau bei Twitter Gewaltandrohungen erhält. Denn: „[S]i le corps humain est constitué à soixante pour cent d’eau, l’esprit est fait de cent pour cent de mots.“[4] – ‚Wenn der menschliche Körper zu sechzig Prozent aus Wasser besteht, besteht der Geist zu hundert Prozent aus Worten.‘
Durch diese Mischung aus vermeintlichen Kleinigkeiten und lebenzerstörenden Tragödien wird zum einen die gemeinsame Grundlage der unterschiedlichen Formen der Gewalt sichtbar. Zum anderen ergibt sich so ein (wohl leider) hohes Identifikationspotenzial insbesondere für Leserinnen, die in den so unterschiedlichen geschilderten Situationen ähnliche eigene Erlebnisse wiedererkennen können – oder die Erfahrungen von Schwestern, Kolleginnen, Freundinnen, Nachbarinnen. Gerade weil der Band so viele verschiedene Situationen mit ganz unterschiedlichen Protagonistinnen schildert, entsteht das Bild einer ‚kollektiven Erfahrung‘ – ‚unserer kollektiven Erfahrung‘, wie es im Vorwort, die Leserinnen explizit in die „sororité“ miteinschließend, heißt.[5]
Besonders greifbar wird der Manifest-Charakter von H24 im 12 Uhr-Text, „Le Cri Défendu“ von Jo Güstin. Die geschilderte Begebenheit in einem Fastfood-Drive-In ist eingebettet in einen Aufruf an ein kollektives ‚Wir‘: „Il nous faut cet instinct quand c’est une fxmme qui crie, de lui venir en soutien, qu’elle soit transgenre ou cis.“[6] – ‚Wir brauchen diesen Instinkt, wenn es eine Frau ist, die schreit, ihr zu Hilfe zu kommen, egal ob sie trans oder cis ist.‘ Der Aufruf, die Verteidigung von Frauen gegen Gewalt zu einem Reflex zu machen wie das Stillen eines schreienden Babys, zieht sich als Refrain durch den Text. In „Le Cri Défendu“ wird dieser Reflex sprachmächtig eingeübt: Die Sprecherin hört die Schreie einer Frau auf dem Parkplatz des Drive-In, in dem sie arbeitet. Zu oft hat sie solche Schreie schon gehört – diesmal reagiert sie, wie sie es sich beim letzten Mal geschworen hat, als sie nicht den Mut aufbringen konnte. Ihre Intervention entfaltet ihre Kraft nicht einfach daraus, dass dem Zorn und der Empörung Raum gegeben wird, sondern vor allem aus dem poetischen Umgang mit der Sprache, die zum Mittel der Verteidigung wird. Der strenge Parallelismus, in dem die Sprecherin den Rechtfertigungen des Mannes für die Gewalt gegen seine Frau entgegentritt, legt die Perversität eines Mindset offen, das die Unversehrtheit eines Fiat über die Unversehrtheit einer Frau stellt: „C’est une histoire de rétro, on me dit: elle a amoché la Fiat du gars, enfin, on croit. / C’est une histoire de macho, moi je dis: il a amoché une fxmme, je m’en tape du pourquoi.“ (46) – ‚Es geht um den Rückspiegel, sagen sie mir: Sie hat den Fiat des Typen ramponiert, also, glauben wir. / Es geht um Machismo, sage ich: Er hat eine Frau zugerichtet, mir egal warum.‘ Wie Schläge prasseln die Wortwiederholungen auf ihr Gegenüber ein, wenn sie mit Bitterkeit auf seine Aufforderung reagiert, nicht den Macker zu spielen: „Tu me diras, il réagit, le bonhomme, dès que tu lui confies / que le pote du pote de son pote t’a violée“ (46). – ‚Willst du mir sagen, er reagiert, der Macker, wenn du ihm anvertraust, / dass der Kumpel des Kumpels seines Kumpels dich vergewaltigt hat?‘ Höhnisch fragt sie schließlich die angegriffene Frau, in Anspielung auf das Fastfood-Setting der Szene: „Ma chérie, tu le veux comment, ton mari? / Bien saignant ou à poings par centaines dans la gueule? / Et un peu de mayo pour te redonner la frite?“ (47) – ‚Wie willst du deinen Mann, Schätzchen? / Schön blutig? Oder mit Hunderten von Faustschlägen [„à poings“ klanglich identisch mit „à point“: „medium/auf den Punkt“] in der Fresse? / Und vielleicht ein bisschen Mayo, um dich aufzuheitern? [Wortspiel mit „avoir la frite“/„gut drauf sein“ und „frites“/„Pommes“] – Das Sprachspiel wird zum Mittel des Empowerment.
Nicht alle Texte in H24 sind laut und zornig wie „Le Cri Défendu“. Empörung und Rachefantasien stehen gleichberechtigt neben Verunsicherung und Schmerz. Gemeinsam zeigen sie zugleich die Alltäglichkeit der Gewalt und skandalisieren diese: Keine der Geschichten, die H24 erzählt, sollte „un acte du quotidien“ sein. Jede einzelne davon ist eine „unerhörte Begebenheit“. H24 versteht sich deshalb letztlich als Gebrauchstext, der nicht nur den Frauen hinter den Zeitungsmeldungen eine Stimme geben will, sondern auch den Leserinnen. „N’hésitez pas à vous emparer de ces paroles“, fordern die Herausgeberinnen diese auf: „Elles sont fortes. Ce sont aussi les vôtres.“[7]– ‚Zögert nicht, euch diese Worte zu eigen zu machen. Sie sind stark. Es sind auch die euren.‘
Anmerkungen
[1] Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 39: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. von C. Michel. Frankfurt a. M. 1999, 221.
[2] Stefan Zweig: Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau. In: Ders.: Meistererzählungen. Frankfurt a. M. 2017. 323–397, 373. Folgende Verweise mit Seitenangabe im Fließtext.
[3] Nathalie Masduraud und Valérie Urrea: Préface. In: Dies. (Hg.): H24. 24 heures dans la vie d’une femme. Arles 2021, 16. Folgende Verweise mit Seitenangabe im Fließtext. Alle Übersetzungen F.R.
[4] Myriam Leroy: PLS. In: H24. 24 heures dans la vie d’une femme. Arles 2021. 75–77, 75.
[5] Masduraud und Urrea, Préface, 16.
[6] Jo Güstin: Le Cri Défendu. In: H24. 24 heures dans la vie d’une femme. Arles 2021, 45–48, 47. Folgende Verweise mit Seitenangabe im Fließtext.
[7] Masduraud und Urrea, Préface, 17.