Herzerwärmung per Filzobjekt?
Wieder lehrt ein japanisches Buch den Wert der Bücher – Michiko Aoyamas Roman über die Bibliothek als Lebensberatungseinrichtung
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseViele japanische Bestseller widmen sich in Zeiten multipler medialer Katastrophenverlautbarungen und wachsender Destabilisierungen dem Thema der sozialen Harmonisierung. In der zeitgenössischen Literatur hält sich – gekennzeichnet durch die Label ikikata no hon (Ratgeberbücher) und iyashi bungaku (Literatur der Heilung und des Trostes) – seit einigen Jahren der Trend zu Wohlfühllektüre. Der deutsche Buchmarkt greift nun offensichtlich gezielt auf diese Strömung zurück, wobei er der Auswahl der großen internationalen Medienhäuser folgt, die ihrerseits vermehrt auf einschlägige Werke aus Japan setzen.
J-Content: Eine aktuelle ikigai-Anleitung
Frau Komachi empfiehlt ein Buch wurde im japanischen Original als Osagashimono wa toshoshitsu made (Auskünfte aller Art bei der Bibliothekarin) 2020 im Verlag Poplar verlegt; Poplar wird mit etlichen Publikationen in der Japan Book Bank gelistet, ein Katalog, der geeigneten landeseigenen Content für die globale Verbreitung präsentiert. Die Autorin des Buchs, Michiko Aoyama, übernimmt tatsächlich das derzeit in der Unterhaltungsliteratur beliebte Fallstudien-Schema und stellt in fünf Kapiteln fünf Personen vor. Gemeinsam ist ihnen, dass sie mit ihrer aktuellen Lebenssituation unzufrieden sind. Sie suchen nach Alternativen, nach Wegen zu einer besseren Zukunft, in der sie endlich ihre Wünsche verwirklichen und ihre Talente zur Geltung bringen können. Frau Komachi empfiehlt ein Buch ist damit auch ein typisches Beispiel für eine literarische ikigai-Anleitung.
Fünf Fälle, fünf Beratungserfolge
Erzählt werden Schicksale einer repräsentativen demographischen Gruppe – Männer und Frauen verschiedener Altersstufen und Berufssparten: Verkäuferin Tomoka (21), Buchhalter Ryo (35), Archivangestellte Natsumi (40), Hiroya (30 Jahre, arbeitsloser Graphiker), und Pensionär Masao (65), ein ehemaliger Angestellter einer berühmten Keksfabrik. Michiko Aoyama gelingen trotz manch höchst sentimentaler Momente anschauliche Portraits der Protagonisten und Protagonistinnen. Die Kaufhausangestellte Tomoka, die aus Frustration über den von ihr als zu eintönig wahrgenommenen Alltag sich selbst einige Zeit vernachlässigte, entdeckt durch die Hinweise der Bibliothekarin Komachi das Kochen für sich und hat begriffen, dass man generell die Dinge mit persönlichem Einsatz vorantreiben muss. Auch sollte man reifen, um mit zusätzlichem Wissen zu neuen Ufern aufbrechen zu können. Natsumi aus dem dritten Kapitel, früher ambitionierte Zeitschriftenredakteurin, heute ausschließlich Elternteil, leidet an ihrer Versetzung innerhalb des Verlags. Als Ehefrau und Mutter eines kleinen Kindes traut man ihr die Redaktionsleitung nicht mehr zu und versetzt sie deshalb in das Archiv des Hauses. Man fühlt mit der gestressten Betreuerin eines nervenden Kleinkinds, der die geistige Betätigung fehlt. Als Natsumi jedoch bereit ist, sich aus der Opferrolle zu lösen, spürt sie, wie sich die Dinge fügen und sie sowohl Mutter sein kann wie auch bei der Buchproduktion tätig; sie verzichtet auf eine Leitungsposition als Redakteurin und orientiert sich hin zum Kinderbuch:
Ich wollte Bücher herausgeben. Das Beste aus einem Autor herausholen und den Lesern Geschichten in ihrer bestmöglichen Form präsentieren.
Essenziell ist für sie die Einsicht, dass gerade unerwartete Wendungen im Leben Erfüllung und Selbstakzeptanz mit sich bringen. Zufälle und Zusammentreffen mit Menschen und Büchern sind es zudem, die frische Impulse geben – bis klar wird, was man „wirklich will“.
Besonders originell ist der Fall des jungen Graphikers, der augenscheinlich jegliche Hoffnung verloren hat. Als er, angetrieben von seiner Mutter, auf dem Sonderverkauf im Gemeindezentrum weitere „gewaltige Rettiche“ holen soll, trifft er dort zuerst die in der Bibliothek beschäftigte nette Assistentin von Komachi, dann auf die Allwissende, die ihm nebenbei schnell ein kleines aus Filz gefertigtes Flugzeug überreicht. Am Ende hilft der nun nicht mehr ganz so Mutlose im Gemeindezentrum mit.
Bibliothekarische Beratung, intuitiv
Aoyamas Text möchte die Bedeutung von Literatur und Kunst für das Leben des Einzelnen bekräftigen. Symbolfigur für das Wissensuniversum der Bücher ist die besagte Bibliothekarin Sayuri Komachi. Tomoka vergleicht sie mit einem Eisbären, Buchhalter Ryo schildert sie dergestalt:
Dort saß eine ungewöhnlich große Frau. Auf ihrem recht prallen Rumpf thronte ein beinahe kinnloser Kopf, in ihrem Haar schimmerte eine Haarnadel mit weißen Blüten. Außerdem trug sie eine beige Schürze und eine cremefarbene Strickjacke. Ihre blasse Hautfarbe schien nahtlos in die helle Kleidung überzugehen – wie beim Marshmallow-Man aus Ghostbusters.
Diese Büchermagierin versteht intuitiv, was dem jeweiligen Klienten fehlt. Man erhält eine Lektüreliste mit zusätzlichen Hinweisen, das heißt persönlichen Empfehlungen von Komachi, sowie eben das gefilzte Objekt, ein Figürchen, als Dreingabe. Während sich der Kunde noch fragt, wozu ein Flugzeug, eine dösende Katze oder eine Bratpfanne aus Filz gut sein mag, beginnt sein Erweckungs- und Reifungsprozess.
Aufnahmefähigkeit und Spielfreude
Die Autorin beschwört in einigen Szenen des Bandes Gefühle inniger Mitmenschlichkeit, unterweist aber über weite Strecken ihre Leser darin, konsequent an sich selbst zu arbeiten. Lebenssinn und Glück begründen sich ganz wesentlich auf der Fähigkeit, eigene enge Sichtweisen, Vorurteile oder andere negative Einstellungen und Hemmungen zu überwinden. In Zeiten sich lockernder familiärer Bande und wachsender sozialer Isolierung des Individuums erinnert Aoyama daran, wie wichtig eine intakte Gemeinschaft ist – versinnbildlicht durch das Bürgerzentrum. Zu dieser Gemeinschaft kann jeder beitragen, so Aoyamas Botschaft. Wer die Bahnen seines Alltags verlässt, Initiative ergreift und einmal spontan Neues wagt, nimmt am „Spiel des Lebens“ teil. Vor allem durch die Produktion kultureller Güter mache man sich um die Gesellschaft verdient, regten Bücher und die in ihnen enthaltene Phantasie viele Menschen ihrerseits an, schöpferisch tätig zu werden. Komachis Filzfiguren sind wohl in erster Linie nicht als possierliche Seelenwärmer gedacht, sondern als Objekte, die – jenseits der Resignation – Ideen freisetzen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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