Es geschah, es wurde gemacht. Und warum?

Mit dem Sammelband „Medizintäter“ wird die Medizingeschichte auf den Stand der NS-Täterforschung gebracht.

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Interview, das Günter Gaus 1964 mit Hannah Arendt führte, gibt es einen Moment, über den ich stolperte. Arendt, die berichtet, wann sie über den Holocaust erfahren habe, zögert an einer Stelle kurz. Dann sagt sie, die ja sehr genau formuliert und weiß, was sie sagt, einen Satz, der sie selbst zu überraschen scheint: „Es hätte nicht geschehen dürfen“ – Arendt war ja nun wahrlich keine Frau, Philosophin, Intellektuelle, die sich in einen kontrafaktischen Konjunktiv verabschiedet. Wenn das so ist, was wollte sie damit sagen? Vielleicht, verkürzt: Es ist geschehen, es kann nichts mehr sein wie vorher. Anders: Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen – und wird auch nicht vergehen.

Vielleicht mag das zu pathetisch klingen. Diese assoziativen Ankopplungen sollten eigentlich nur auf die immer noch, immer wieder quälende Frage führen, wie Auschwitz hat geschehen können.

Aber Auschwitz ist nicht geschehen, es ist gemacht worden, von Menschen. Damit ist man bei der Frage der Täterschaft angelangt. Was ist ein:e Täter:in? Von Täter:in spricht man im juristischen Bereich. In den Begriff ist sein Gegenteil semantisch eingebaut: Opfer/Geschädigte:r. Benutzt man den Begriff, geht man von einer dichotomen Struktur aus. Es gibt Täter:innen und Opfer. Tertium non datur. Ist es so einfach? Oder ist der Begriff vielleicht gar nicht so hilfreich und führt in die Irre?

Die Täterforschung entwickelte sich als Subdisziplin der Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus zum einen im Gefolge der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen nach 1945, zum anderen als Reaktion auf die bekannten Entschuldungsrhetoriken: ‚Bei uns‘ gab es nur wenige Mörder, Fanatiker, Opa war kein Nazi (mit dem bekannten, verblüffenden Effekt, dass wir Deutschen zwischen 1933 und 1945 ein Volk verkappter Widerständler:innen waren – hat nur keiner gemerkt).

Im April 2019 fand in Erlangen eine Tagung zu Medizintäter:innen statt. Im daraus hervorgegangenen Sammelband wird die Täterforschung in der Medizingeschichte verankert. Die Einleitung Philipp Rauhs liefert einen guten Überblick über „NS-Täterbilder im Wandel“. Viele Jahrzehnte erzählte die Ärzteschaft, vor allem in Gestalt der Bundesärztekammer, die Legende von den wenigen dämonisch-psychopathischen oder fanatisierten Ärzten. Wie in vielen anderen Berufsgruppen und in der Bundesrepublik allgemein dauerte es lange, bis die „Täterforschung“ bei den ganz normalen Deutschen angelangt war: Industrialisierter Massenmord ist auch eine Massenangelegenheit und braucht viele helping hands. Auch wenn Rauh konstatiert, dass die Täterforschung „nach wie vor eher als Stiefkind der deutschen Medizingeschichte zu betrachten“ sei, so kann man diesen Sammelband als ein gelungenes Korrektiv ansehen (wobei noch ergänzt werden sollte, dass es ja durchaus schon „Klassiker“ der Täterforschung in der Medizingeschichte gibt, erinnert sei nur an Ernst Klees Standardwerk über die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen).  

In fast allen Beiträgen des Sammelbandes wird der Nachkriegskontext mitbedacht und -beschrieben. Einige Aufsätze widmen sich dem expliziter. So erörtert Heiner Fangerau den Umgang medizinischer Fachgesellschaften mit der NS-Zeit und mit Medizintätern. Auch hier: Bis in die 1980er Jahre bog man sich die Vergangenheit zurecht, Nazis hatte es vermeintlich kaum gegeben. Erst ab den 1990er Jahren änderte sich die Sicht, viele Fachgesellschaften gaben (und geben endlich) die Untersuchung ihrer Geschichte während der NS-Zeit in Auftrag. Markus Wahl untersucht biographisch sechs Karriereverläufe von Ärzten, die in der DDR landeten. Dabei wurden, wie nicht anders zu erwarten, „unterschiedliche Verhandlungs-, Exkulpations- und Integrationsstrategien“ verfolgt. Man bereinigte Lebensläufe, komponierte einiges freihändig zurecht, machte auf unpolitisch, trat in „sozialistische Massenorganisationen“ ein, engagierte sich politisch in Blockparteien oder schnüffelte gar für die Stasi. Womöglich war der Nationalsozialismus eine gute Lehrzeit, um Verleugnen, Lügen, Opportunismus oder Denunzieren einzuüben.  

Die Beiträge des Bandes sind weit gespannt. Einige sind eher theoretisch-begrifflich orientiert, andere widmen sich Einzelfällen oder gehen gruppenbiographisch vor. Auch wenn meine nachfolgende jeweilige Inhaltswidergabe etwas monoton wirken mag, so scheint es mir wichtig, auf (fast) jeden Aufsatz gesondert hinzuweisen, um die Fülle der Perspektiven darzustellen.

Im Ersten Weltkrieg wurden sogenannte ,Kriegszitterer‘, durch Grabenkrieg und industrialisierte Kriegsführung traumatisierte Soldaten, mit fragwürdigen „Therapie“-Verfahren wieder kriegsfähig gequält. Stellvertretend hierfür stehen die Schockverfahren, die der Mediziner Fritz Kaufmann durchführte. Auch im Zweiten Weltkrieg gab es ,Kriegszitterer‘. Jetzt tat sich Friedrich Panse als Militärpsychiater hervor. Hans Georg Hofer und Ralf Forsbach weisen in ihrem Beitrag auf die unterschiedlichen Lebensläufe Kaufmanns und Panses hin. Kaufmann war „nicht-arisch“, er war ab 1933 Repressalien ausgesetzt, emigrierte 1935 und verstarb schließlich 1941 in der Schweiz. Überdies zeigen Patientenakten, dass die Behandlung von traumatisierten Soldaten je nach Lazarett sehr unterschiedlich aussehen konnte, nicht jeder wurde durch Elektroshocks an die Front zurückgefoltert.

Wer machte warum bei was genau mit? Mehrere Aufsätze gehen dieser Frage anhand von Einzelstudien nach. So ‚musste‘ das sogenannte „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN), das am 1. Januar 1934 in Kraft trat und Zwangssterilisationen als „erbkrank“ Stigmatisierter vorsah, ja von irgendwem umgesetzt werden, es war schließlich positiv gesetztes Recht im NS-Staat. Dabei waren vor allem Chirurgen und Gynäkologen gefragt. Sandra Rohloff identifiziert bei einem niedergelassenen Chirurgen, Robert von Büngner, „monetäre“ Interessen, wenn er Patienten aus der Anstalt Uchtspringe sterilisierte. Mit der getroffenen Vereinbarung mit Uchtspringe konnte Büngner zusätzliches Geld verdienen. Er selbst sah sich bloß als „‚ausführendes Organ‘“. Anders liegt der Fall bei Richard Wilmanns, Chirurg an den Bodelschwingschen Anstalten in Bethel. Aus Patientenakten lässt sich ersehen, so weisen Marion Hulverscheidt und Uwe Kaminsky nach, dass „sich Wilmanns eilfertig zur Zwangssterilisation positionierte und diese noch vor Inkrafttreten“ des GzVeN „durchführte“.

Betroffen von der „erbbiologischen Sanierung“ der deutsch-germanischen ‚Rasse‘ waren vor allem psychisch Kranke. Mehrere Aufsätze widmen sich dieser Opfergruppe. So skizziert Robert Davidson die Ambivalenz der Erlanger Reformpsychiatrie um 1920/30. Sozialpsychiatrisch orientiert, versuchte die sogenannte „Offene Fürsorge“, Patienten aus den Anstalten zu entlassen. Sie sollten in ihrem angestammten Milieu, nicht in einer sterilen Anstalt behandelt werden. Doch auch die Erlanger Reformpsychiater waren Eugeniker. Selbst wenn sie für psychische Krankheiten gesellschaftliche Ursachen veranschlagten, glaubten sie doch, „dass der „‚erbkranke Mensch‘“ die „Stellschraube“ sei. Hier musste eingegriffen , d.h. auch sterilisiert werden.

Bernd Reichelt untersucht am Beispiel der württembergischen Heilanstalt Zwiefalten die Zeit vor dem Beginn der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen. Wie manifestierte sich die „NS-Erbgesundheitspolitik lokal und regional“, welche Ärzte waren an der Umsetzung beteiligt? Dabei fällt auf, dass in Zwiefalten viele junge Ärzte tätig waren, im Rahmen der Gleichschaltung des Anstaltswesens wurde das ärztliche Personal bis „1935/36 komplett ausgetauscht“. Die Jahre vor dem Krankenmord waren Jahre der „erbbiologischen Bestandsaufnahme“ als auch der Durchführung des GzVeN. Der Direktor von Zwiefalten, Hans Walter Gruhle, war zwar immer wieder in Konflikt mit dem NS-Regime, dennoch „ging er als Anstaltsdirektor nie in direkte Konfrontation“, vielmehr erfüllte er „seine von der NS-Gesetzgebung auferlegten Pflichten als leitender Arzt einer Heil- und Pflegeanstalt. Dies galt sowohl hinsichtlich der Zwangssterilisationen als auch in Hinblick auf die Zusammenarbeit mit den Gesundheitsämtern bei der ‚erbbiologischen Bestandsaufnahme‘.“ 

Marion Voggenreiter und Susanne Ude-Koeller behandeln die verwickelte Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen unter ihren Direktoren Wilhelm Einsle und Hermann Müller. Keiner der beiden versuchte, Transporte von Patienten in Tötungsanstalten im Rahmen der Aktion T4 zu verhindern. Ebenso klar ist, dass es in Erlangen sogenannte „Hungerstationen“ und „Hungerkost“ gab, was zu massiver Sterblichkeit führte. Einsle konnte sich in einem Verfahren nach dem Krieg gut aus der Verantwortung stehlen, weil er diese seinem Mit-Direktor Müller aufhalste, hatte dieser sich doch nach dem Krieg suizidiert und konnte sich nicht mehr wehren. Waren Einsle und Müller überzeugte Nazis, Opportunisten, Eugeniker?

Klar ist der Fall von Friedrich Karl Dermietzel, HNO-Arzt und Chef des SS-Sanitätsamtes. Der Aufsatz von Mathias Schmidt, Jens Westemeier und Saskia Wilhelmy fragt nach seiner „Bedeutung für den Aufbau des SS-Sanitätswesens“, nach seiner „Verantwortung für den medizinischen Bereich im Konzentrationslagerwesen und diskutiert […] mögliche Motive, die Dermietzels Engagement innerhalb der SS und später Waffen-SS zugrunde lagen.“ Nicht überraschend: Dermietzel „war ein von der nationalsozialistischen Weltanschauung überzeugter SS-Führer“, der nach 1945 „stets mehr auf sein eigenes Wohl achtete, statt sich über die Ereignisse oder gar die Opfer der NS-Zeit Gedanken zu machen“. Während seiner Internierung in Nürnberg jammerte er: „Warum muss ich als Angehöriger des Medical Corps in Haft sein, obwohl ich seit mehr als 10 Jahren aus der Polit[itischen] SS ausgeschieden bin? Warum müssen meine Frau und meine Kinder leiden?“ So kann man es auch sehen.  

Menschen leben in Systemen. Wie lässt sich das Verhalten dreier weiblicher Ärzte im KZ Ravensbrück verstehen, so fragt Petra Betzien. Sie wussten von der Gewalt gegen und der Tötung von KZ-Insassinnen. Lässt sich mehr über ihre Motivation erfahren mitzumachen? Was auffällt, ist, „dass alle drei Ärztinnen aus bürgerlichen Verhältnissen mit christlich-konservativem Gedankengut stammten und noch in der Zeit des Kaiserreichs mit seiner Klassengesellschaft sozialisiert wurden.“ Sie wurden dann weiter in den Nationalsozialismus hineinsozialisiert, übernahmen unreflektiert Stereotype einer Kollektivethik, waren fixiert auf das „vermeintliche Wohl der Allgemeinheit und des deutschen Volkes im Speziellen“. Im Rückblick behaupteten alle drei Ärztinnen glattweg, „sich berufsethisch einwandfrei [….] verhalten zu haben“. Das muss frau erstmal hinkriegen. Auch KZs sind ganz normale Organisationen – Gerda Weyand, eine der drei Ärztinnen, lernte in Ravensbrück ihren späteren Ehemann kennen und meinte noch später: „‚Die Ravensbrücker Zeit war und wird die schönste Zeit in meinem Leben bleiben.‘“  Was ist das? Empathielosigkeit? Unfähigkeit, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen? Die Ravensbrücker Ärztinnen funktionierten ohne Reflexion oder Skrupel im NS-System.

Aber so muss es nicht sein, individuelle Wirklichkeit, die black box Individuum, ist rätselhafter: Gregor Holzinger beschreibt zwei Ärztekarrieren im KZ Mauthausen. 1941/42 waren dort Eduard Krebsbach und Ladislaus Conrad gleichzeitig tätig. Krebsbach galt zuerst als Gegner des Nationalsozialismus. Er trat später in die SS ein, wurde Arzt in Mauthausen. Conrad war schon 1934 Mitglied der illegalen NSDAP Österreichs, ein überzeugter Nationalsozialist. Während Krebsbach in Mauthausen „Selektionen“ vornahm, weigerte sich Conrad Häftlinge mit Hinweis auf den hippokratischen Eid zu töten. Er bat wohl um Versetzung an die Front und fiel 1944. Holzinger beschreibt Krebsbach als „typische(n) Opportunist(en)“, der sich nach dem Krieg als bloßen Befehlsempfänger gab.

Das Individuelle bleibt unberechenbar und mysteriös. Geben Gruppenbiographien mehr Auskunft? Katharina Trittel zeigt, dass sich die elitären Flugmediziner als reine Wissenschaftler verstanden. Sie gehörten zur ‚sauberen‘ Wehrmacht (trotz grausamer Experimente), ein Mythos, den sie auch nach 1945 verkauften. Anders sieht es bei den 177 SS-Ärzten aus, die in KZs tätig waren. Philipp Rauh schlussfolgert: „Die Lebenswege der KZ-Ärzte ergeben ein facettenreiches Bild aus rassistischem Antrieb, Karrierismus und Bereicherungsstreben. Ideologische Grundüberzeugungen, soziales Gefüge innerhalb der Gruppe der SS-Mediziner und die entgrenzten strukturellen Rahmenbedingungen von Konzentrationslagern im Krieg sorgten dafür, dass die Mehrheit dieser Mediziner zu Massenmördern wurden.“  

Drei der Aufsätze sind eher begrifflich-theoretisch orientiert. Hans-Ludwig Siemen stellt Überlegungen zur „Sozialpsychologie der Täter und Täterinnen“ an. Dabei greift er auf Freuds Aggressionstrieb zurück. Während des Nationalsozialismus habe sich in Deutschland „eine Kultur entfaltet, die es bestimmten Menschen erlaubte, ihre Vernichtungswut gegen andere Menschen, die von dieser Kultur stigmatisiert und ausgegrenzt worden waren, ungestraft auszuleben“. Seines Erachtens waren es sozialpsychologisch gesehen drei „Dynamiken, die vor, während und nach dem Nationalsozialismus auf einer Massenebene Wirkung entfalteten: als Erstes Komplexität verringernde Ideologien, die einfache Lösungen versprachen. Als Weiteres die Denkfigur der „Nation im Krieg“ und Wirkungsmacht von „Heilen und Vernichten“ in der „totalen Institution“ der Anstalten, in denen das Personal, strukturell mit grenzenloser Autorität ausgestattet, die zu Objekten degradierten Patienten behandelte. Und drittens die kollektive Abwehr von individueller Schuld, die zum Vergessen der Menschen führte, „die Opfer geworden waren“.

Henning Tümmers möchte die NS-Medizinverbrechen in einer „Historie von Medizinverbrechen des 20. und 21. Jahrhunderts“ verorten. Er identifiziert vier Faktoren, die für medizinische Gewalt verantwortlich sein könnten. (1) Sie benötige ein übergeordnetes System, das Möglichkeitsräume für Destruktivität schaffe. (2) Der/die Mediziner:in müsse „als Akteur medizinische Gewalt in den Fokus“ rücken. (3) Stets sähe man vorgängig „Entindividualisierungs- und Dehumanisierungsprozesse“, stets (4) treffe man auf „das wiederkehrende Postulat der „Ökonomie“ als konstitutive(m) Element“. 

Volker Roelcke fragt genauer nach Täterschaft und Tätern im Nationalsozialismus. Dabei skizziert er die Umrisse einer Typologie unter Berücksichtigung konkreter Handlungskontexte.

Man sieht: Der vorliegende Sammelband unternimmt weitere Schritte einer differenzierten Betrachtung von Täter:innen und Täterschaft. Es bleibt dennoch die quälende Frage, wie das hat geschehen können, was nicht hätte geschehen dürfen. Die Täterforschung liefert Hinweise, man kommt ‚näher‘ heran. Vielleicht muss aber diese Perspektive ergänzt werden durch eine soziologisch-systemtheoretische wie sie zum Beispiel Stefan Kühl in seiner Organisationssoziologie des Holocaust – Ganz normale Organisationen – entworfen hat. Denn ist nicht das wirklich Desolate, dass man den Eindruck nicht los wird: Wären es nicht diese Menschen gewesen, dann wären es im System andere gewesen, die auch nicht wesentlich anders gehandelt hätten. Oder?   

Titelbild

Philipp Rauh / Marion Voggenreiter / Susanne Ude-Koeller / Karl-Heinz Leven (Hg.): Medizintäter. Ärzte und Ärztinnen im Spiegel der NS-Täterforschung.
Böhlau Verlag, Köln 2022.
591 Seiten , 60,00 EUR.
ISBN-13: 9783412522773

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch