Die Freidank-Überlieferung grundlegend neu erschlossen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den fruchtbarsten Gattungen der mittelalterlichen Literatur zählen Sammlungen von Sprüchen, die in Vers- oder Prosa als ‚Sprichwörter‘, ‚Sinnsprüche‘, ‚Sentenzen‘, ‚Aphorismen‘ et cetera feststellend oder ermahnend Lebensweisheit und Lebensregel formulieren. Zuerst lateinisch, dann auch in den Volkssprachen abgefasst, im Einzelnen ganz unterschiedlich konzipiert, bilden sie ein umfassendes Archiv des Werte- und Orientierungswissens ihrer Zeit. Ihre Pflege lässt sich als Vehikel des Zivilisationsprozesses verstehen, der nach Norbert Elias’ Meistererzählung die Entwicklung der europäischen Gesellschaft zwischen Mittelalter und Neuzeit bestimmt hat. Man darf unterstellen, dass die fortwährende Repetition der Sprüche der prozesstypischen Umwandlung von ‚Fremdzwängen‘ in ‚Selbstzwänge‘ zugearbeitet und damit an der Konditionierung gesellschaftlich erwünschten Handelns mitgewirkt hat.

In Deutschland hat ein gewisser Freidank (gestorben 1233?) seit dem Ende des 12. Jahrhunderts eine Sammlung solcher Sprüche in mittelhochdeutschen Reimpaarversen verfasst und unter dem Titel Bescheidenheit (das heißt ‚Unterscheidungsvermögen‘ im Sinn von ‚Verständigkeit‘, ‚Vernunft‘, ‚Weisheit‘) zusammengestellt. In annähernd dreihundert Textzeugen (Handschriften, Drucken, Inschriften) überliefert, die vom 12./13. bis ins 17. Jahrhundert im gesamten deutschen und im niederländischen Sprachraum entstanden sind, gehört die Bescheidenheit zu den großen Bucherfolgen des Mittelalters. Das Geheimnis ihrer Beliebtheit liegt in der sprachlichen und gedanklichen Prägnanz vieler Sprüche, die – nach dem Urteil Samuel Singers – „der deutschen Gnome eine mit jeder anderen gleichberechtigte Stellung in der Weltliteratur“ sichern.

Der vorliegende Band bietet ein beschreibendes Verzeichnis sämtlicher bis heute bekannter Textzeugen. Er tritt an die Stelle des in den Jahren 1998 bis 2006 erarbeiteten digitalen Marburger Repertoriums der Freidank-Überlieferung, dessen Beschreibungen umfassend revidiert, aktualisiert und um Neufunde ergänzt wurden. Mehrere Register erschließen den Bestand. Ein Anhang dokumentiert in Farbabbildungen das kulturgeschichtlich bedeutendste Freidank-Zeugnis: 28 hölzerne Rundschilde mit Brustbildern von Autoritäten und umlaufend angebrachten Freidank-Sprüchen, die im 14. Jahrhundert für das Erfurter Rathaus angefertigt wurden.

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Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

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Joachim Heinzle (Hg.): Beschreibendes Verzeichnis der Freidank-Überlieferung. Handschriften, Drucke, Inschriften.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2023.
165 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783777631639

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