„Orpheus und die Seinen“ oder „Klassiker sind ein Glück für den Leser“

Fragen von literaturkritik.de zu einem neuen Essay-Band zur Weltliteratur mit Antworten

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literaturkritik.de (Ltk): Nach „Der Nobelpreis für Lyrik“, 2014 bei LiteraturWissenschaft.de erschienen, ist „Orpheus und die Seinen“ Ihr zweiter Band mit literarischen Essays. Geht es wieder um Lyrik?

Dieter Lamping (DL): Auch, aber nicht nur. Es geht um alle Arten von Literatur von der klassischen Tragödie bis zur Detektivgeschichte, außerdem um literarische Figuren wie Antigone und um bestimmte künstlerische Verfahren wie das analytische. Und in manchen Essays, etwa über Horaz, Marie Luise Kaschnitz, Paul Celan, Kurt Vonnegut oder Gabriel García Márquez, geht es vor allem um Autoren: um literarische Persönlichkeiten und ihre Einzigartigkeit.

Ltk: Und was hat das mit Orpheus zu tun?

DL: Orpheus ist der mythische Ahnherr der Dichter. Er eignet sich gut als Ausgangspunkt für einen Gang durch die Weltliteratur. Denn im Mythos wird vieles, fast alles angesprochen, was zur künstlerischen Existenz – wie sie Georg Simmel genannt hat – gehört. So können wir aus dem Mythos Gesichtspunkte gewinnen, mit denen sich noch Literatur unserer Zeit verstehen lässt.

Ltk: Welche etwa?

DL: Der Orpheus-Mythos steckt voller kleiner und großer Dramen. Das Leben des Dichtersängers dreht sich um Liebe und Tod, Abenteuer und Verlust, Schuld und Trauer, Sexualität und Gewalt – das sind Menschheitsthemen bis heute. Das große Thema seines Mythos aber ist die Macht der Dichtung, ihre Anziehungskraft, ja ihr Zauber, dem wir als Leser alle erliegen. Allerdings zeigt der Mythos in der Erzählung von seinem Tod auch die Ohnmacht des Dichters. Orpheus wird von seinen Feindinnen am Ende brutal ermordet – von Frauen, die er verschmäht hat, Anhängerinnen des Dionysos. Er ist ein Halbgott und eine tragische Figur.

Ltk: Dieser Mythos ist ja bis in unsere Tage oft wiederaufgegriffen worden. Manches davon erwähnen sie auch.

DL: Ja. Der Mythos von Orpheus stellt eineVerbindung her zwischen manchen Büchern und Autoren. Das ist seine Erkenntnis-Funktion, und die kann ein Mythos durchaus haben. Er führt uns etwa vor Augen, dass Dichtern nicht nur Liebe und Verehrung entgegengebracht wird, sondern auch wütender Hass. Sie werden oft unbarmherzig verfolgt – und zwar als Dichter, wegen dem, was sie gesagt und wie sie es gesagt haben.

Momente des Mythos kehren z.B. noch im Schicksal Boris Pasternaks wieder, der, nachdem er Doktor Schiwago veröffentlicht hatte, wie kein anderer Dichter in der UdSSR verfolgt wurde. Der Mythos von Orpheus lebt aber auch in dem Erfolg einiger Autoren weiter, die ich die Urenkel des Orpheus nenne (nun, sie sind eher seine UrUrUrUrUrEnkel): die neuen Dichtersänger, wie wir sie seit Bob Dylan und Leonard Cohen kennen und schätzen – obwohl wir sie weniger zur Hochliteratur als zur Popmusik rechnen.

Das Buch ist aber trotzdem keine Motivgeschichte. Es ist eine Sammlung von Essays, die alle auch für sich stehen können.

Ltk.: Manche Ihrer Essays entfernen sich deshalb auch von Orpheus und seinem Mythos.

DL: Ja. Viele schließen allenfalls an den Mythos an, ohne dass sie auf ihn zurückführen. Wieder andere denken weiter, was in ihm angesprochen wird. Denn dieser Mythos erzählt auch davon, was ein Dichter ist und was ihn zum Dichter macht, wie Dichtung entsteht und wirkt. An den Orpheus-Mythos anzuknüpfen, heißt immer auch, das Nachdenken über Autoren und Literatur fortzusetzen. Und da stellen sich dann auch Fragen, die vom Mythos wegführen, etwa: Was ist heute noch ein Klassiker? Was große Kunst? Wie unterscheiden wir zwischen Dichtung und Literatur? Wie ist das Verhältnis von Literatur und Leben, Poesie und Politik?

Ltk: Im Untertitel Ihres Buches werden, neben den Werken, auch Autoren genannt. Warum beschränken Sie sich nicht auf Texte?

DL: Weil neben dem Werk auch der Verfasser – oder die Verfasserin – unsere Aufmerksamkeit verdient. Die Person macht einen Unterschied. Was sie ausmacht, geht über einen Text – und sei es ihr gelungenster – hinaus. Noch immer sind Autoren Erkunder der Welt um uns herum. Sie leben in der Nähe nicht nur zu Lebenden, sondern auch zu Toten. Sie sprechen von der Liebe und ihren Verlust so, wie kein anderer es vermag. Sie können Sprache so gebrauchen wie kaum einer sonst: einzigartig und doch allgemein verständlich. Sie leben nicht für uns, aber sie sprechen für uns: Sie finden die Worte, die wir brauchen. Durch ihre Werke wissen wir, was große Literatur ist. So müssen wir uns auch fragen, was die besonderen Fähigkeiten dieser Schriftsteller sind, die wir im besten Fall als Dichter bezeichnen.

Ltk: Die sogenannten Genies.

DL: Wie immer wir sie nennen: Es lohnt sich, über sie und ihre Begabungen, aber auch über ihre Befangenheiten nachzudenken – zum Beispiel mit Petrarca und Goethe, wie ich es versuche.

Ltk: Und die großen Werke dieser großen Autoren nennen Sie –

DL: Weltliteratur. Es gibt auch andere Begriffe für sie. Aber mit diesem im Ganzen mehrdeutigen Begriff lässt sich am meisten erfassen. 

Ltk: Die Reihe Ihrer Beispiele ist eher heterogen – wenn man nur an neuere Autoren wie Elias Canetti, Heinrich Böll und Peter Handke denkt.

DL: Und diese Reihe ist nicht annähernd vollständig. Man kann sie unschwer erweitern. Doch auch so schließt sie viele verschiedene Autoren ein: Sophokles, Dante, Montaigne, Shakespeare und Kleist etwa. Allerdings genauso Franz von Assisi, James Fenimore Cooper und Karl Kraus. Orpheus und die Seinen: Das ist eine weitverzweigte Familie, deren Mitglieder sich untereinander oft gar nicht kennen. Dichtung war immer höchst vielfältig. Heute würde man sagen: divers.

Ltk: Es sind auffällig viele Klassiker unter den Autoren, über die Sie schreiben.

DL: Ja – natürlich. Die ,Alten‘ sind nicht ganz unnütz. Ich will nur zwei Gründe anführen. Zum einen: Aus einem Abstand über Autoren und Werke zu sprechen ist der Erkenntnis förderlich. Die Zeit klärt – auch unser ästhetisches Urteil. Zum andern: Ohne klassische Beispiele kann man nicht über Literatur reden. Denn klassisch heißt ein Kunstwerk letztlich, wenn es nach allen Regeln der Kunst gelungen, ja vollendet ist und wenn das, was es auf seine eigene Weise zu sagen hat, zumindest noch bedenkenswert ist.

Solche Werke muss man lesen, aber nicht weil es irgendein Kanon verlangt. Sie zeigen uns, was Literatur ist, was sie kann und wofür wir sie brauchen, etwa als eine Wissenschaft vom Menschen oder als Auskunft über die Welt. Diese Werke – übrigens auch ihre Verfasser – sind zumeist klüger als wir. Wir können von ihnen unendlich viel lernen. Wir müssen sie nur zu lesen verstehen, dann belohnen sie uns: mit ihrem Reichtum. Klassiker sind ein Glück für den Leser.

Hörproben bei https://onomato.de/

Titelbild

Dieter Lamping: Orpheus und die Seinen. Essays zu Autoren und Werken der Weltliteratur.
Mit Graphiken von Simone Frieling und einer Audio-Lesung von Axel Grube und Dieter Lamping.
onomato Verlag, Düsseldorf 2023.
224 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783949899201

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