„Engel der Trübsal“ – ein Schlüsselroman der Beat Generation
Jack Kerouacs autobiografischer Roman liegt erstmals vollständig und in einer neuen Übersetzung vor
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Sommer 1956 nahm der amerikanische Schriftsteller Jack Kerouac (1922-1969) einen Job als Feuerwächter am Desolation Peak an. Den Namen „Desolation“ (dt. Verwüstung) hatte der Gipfel nach verheerenden Bränden in den Jahren 1919 und 1926 erhalten. Kerouac interessierte jedoch weniger die Landschaft, vielmehr sah er die Möglichkeit, in der Stille und Einsamkeit an einem weiteren Roman arbeiten zu können. Für seinen Roman On the Road (dt. Unterwegs) hatte er zwar schon einen Verlag gefunden, aber er erschien erst im September 1957. Daher verpflichtete sich Kerouac auf den Rat seines Freundes, des Schriftstellers und Umweltaktivisten Gary Snyder (*1930) zu einem neunwöchigen Einsatz auf einem der entlegensten Gipfel der nördlichen Cascade Mountains nahe der kanadischen Grenze. Den Weg dorthin legte er teilweise zu Fuß zurück oder ließ sich von Holzfällern, Uranschürfern oder Farmern mitnehmen. Als er mit einem Hilfsförster und einem Maultiertreiber auf dem Gipfel ankam, empfing ihn dichtes Schneetreiben. Von der erbärmlichen Hütte, die in den nächsten Wochen sein Zuhause wurde, konnte er in jede Richtung rund 150 Kilometer sehen, falls Nebel das nicht verhinderte.
Im ersten Teil seines halbautobiografischen Romans Desolation Angels, den Kerouac erst 1961 niederschrieb und der schließlich vier Jahre später erschien, verarbeitete er seine persönlichen Erfahrungen in der Wildnis und Einsamkeit, wo er „zwei Monate lang allein gewesen war, ohne von einem einzigen Menschen angestarrt und ausgefragt zu werden“. Unter dem Titel Engel, Kif und neue Länder wurde der Roman in Teilen 1967 in deutscher Übersetzung von Otto Wilck publiziert. Warum es damals nur zu einer Teilübersetzung (knapp 200 Seiten) kam, ist bis heute nicht geklärt. Nun liegt der Roman mit neuem Titel Engel der Trübsal zum ersten Mal vollständig in einer neuen Übersetzung von Jan Schönherr vor.
Der Roman beginnt in den Bergen von Washington, wo Jack Duluoz (Alter-Ego Kerouacs) einen Job als Feuerwächter am Desolation Peak angenommen hat. Hier ist er auf der Suche nach Bestätigung, indem er seine Meditationspraxis und Selbstbeobachtung fortsetzt; er hofft, „Gott oder Tathagata gegenüberzustehen und ein für alle Mal herauszufinden, was es auf sich hat mit dieser ganzen Existenz, dem Leid und nichtsnutzigen Hin und Her“. Doch er findet nur Abscheu vor sich selbst, nur der alte Duluoz, das hassenswerte Ich steht ihm gegenüber, dazu „kein Schnaps, keine Drogen, keine Chance, irgendjemand was vorzumachen“. So spiegelt der erste Teil des Romans Kerouacs zunehmende Ernüchterung der buddhistischen Philosophie wider.
Doch nach 63 Tagen, die er am Ende „Trübsal der Einsamkeit“ nennt, glaubt Duluoz, vor Langeweile sterben zu müssen, und so kehrt er im zweiten Teil des Buches Passing Through nach San Francisco zurück. Hier trifft er sich in ausgelassenen Nächten mit seinen Freunden und Schriftstellerkollegen der Beat-Bewegung. Nach ein paar Wochen, die zwar angefüllt sind mit Drogen und Alkohol, in denen er aber kaum etwas geschrieben hat, zieht Duluoz weiter nach Mexiko – in der Hoffnung, beim Schreiben allein zu sein. Bald treffen jedoch seine Freunde aus San Francisco in Mexiko ein. Duluoz schätzt zwar ihre fortwährende Gesellschaft, empfindet sie aber auch als erdrückend für sein kreatives Leben. Also geht es weiter nach New York, wo er mit seinen Freunden Irwin Garden und Simon Darlovsky zusammenkommt, die ihn von dem Wert seines „Literaturkrams“ überzeugen.
Mit einem alten Frachter setzt Duluoz schließlich nach Tanger über, der heimlichen Hauptstadt der Beatniks. Doch schon bald geht es mit einem Postschiff nach Europa, wo er sich einige Zeit in Paris und London aufhält, ehe er wieder nach Amerika zurückkehrt und mit seiner Mutter eine Reise über Mexiko nach Kalifornien unternimmt. Zurück in New York sind Irwin, Simon und er inzwischen mehr oder weniger berühmte Autoren geworden: „Friedlicher Kummer zu Hause ist letztlich das Beste, was ich der Welt jemals zu bieten haben werde, und so sagte ich meinen Engeln der Trübsal Lebwohl. Für mich ein neues Leben.“ Doch vier Jahre nach der Veröffentlichung seines Spätwerkes starb Jack Kerouac am 21. Oktober 1969, gezeichnet von Alkohol und Drogen.
Desolation Angels behandelt ein Schlüsseljahr in Kerouacs Leben und Karriere, die Zeit, die zur Veröffentlichung von On the Road führte, einem der wichtigsten Texte der Beat Generation. Wie sein Protagonist Jack Duluoz ist Kerouac hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach schöpferischer Einsamkeit und dem Reiz der spontanen, oft ziellosen Reisen und dem aufregenden Trubel der Bars, Jazzclubs und Partys in San Francisco. Gleichzeitig zeichnet der Roman Kerouacs eigene Erkenntnis als Schriftsteller der Beat Generation genau nach, die sich durch einen rastlosen Lebensstil und radikale Individualität auszeichnete. Die in dem Roman auftretenden Freunde von Duluoz ähneln den echten Autoren der Beat Generation: William S. Burroughs („Bull Hubbard“), Carolyn & Neal Cassady („Evelyn & Cody Pomeray“), Allen Ginsberg („Irwin Garden“), Gary Snyder („Jarry Wagner“), Peter Orlovsky („Simon Darlovsky“) oder William Carlos Williams („Dr. Williams“).
In seinem Nachwort beleuchtet der amerikanische Schriftsteller John Wray kurz die wenigen Monate vor Kerouacs kometenhaften Aufstieg zur schriftstellerischen Berühmtheit. Der weit verbreiteten Legende nach hat Kerouac seine Romane in einem Rausch geschrieben, stets der ersten Eingebung vertraut und niemals ein Text überarbeitet. Diese Behauptung ist inzwischen längst widerlegt, doch in Desolation Angels sieht Wray diese Spontanität des Schreibprozess. Obwohl der Roman nicht Kerouacs überzeugendster ist, vergleicht er ihn mit einem anderen Projekt der amerikanischen Literatur: den Leaves of Grass (1855) des Dichters Walt Whitmans (1819-1892).
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