Eine Sommerfreundschaft der anderen Art

In Hugo Lindenbergs „Eines Tages wird es leer sein“ kämpft ein jüdischer Junge gegen die Schatten der Vergangenheit und erlebt kurze blitzartige Momente der Unbeschwertheit und eines geborgten familiären Glückes

Von Barbara TumfartRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Tumfart

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Sommer in der Normandie in den 1980er Jahren, jene Zeit, die eine Vielzahl der Franzosen in langhergebrachter Tradition am Meer zu verbringen pflegt – „en famille“ – wie es so schön heißt. Man wohnt in einem Zweitwohnsitz oder mietet sich für mehrere Wochen ein Haus ganz nahe am Meer, trifft Freunde und Verwandte, entspannt am Strand und pflegt seine sozialen Kontakte. Auch der zehnjährige Erzähler im beeindruckenden Debütroman des französischen Journalisten und Schriftstellers Hugo Lindenberg befindet sich in den Sommerferien an der Küste der Normandie. Allerdings ist er am Strand meist alleine – wenn überhaupt nur in Begleitung seiner alten Großmutter, die sonst den ganzen Tag mit Hausarbeit und Kochen verbringt. So sitzt der Junge still und zurückgezogen am Strand und beobachtet heimlich aber fasziniert das Treiben der ihn umgebenden „normalen“ Familien. Da wird miteinander gespielt, gemeinsam gegessen, herumgetollt und viel gelacht mit einer für den Erzähler nicht nachvollziehbaren Unbeschwertheit und Spontanität, die sein eigenes Alleinsein mitunter zu einem fast unerträglichen Gefühl einer schier grenzenlos schmerzhaften Einsamkeit anwachsen lässt.

Doch dann taucht Baptiste, ein etwa gleichaltriger Junge auf und gemeinsam, in einem fast verschwörerischen Akt der Verbrüderung wird eine (ohnehin schon tote) Qualle durch einen Stich mit einem Holzstock gemeinsam getötet. Und Baptiste ist unbekümmert; er wohnt mit seiner Schwester und seinen Eltern in einem Haus nahe am Meer. Er hat in den Augen des Erzählers alles, was ihm fehlt: eine intakte Familie in klassischem Sinn, eine liebevolle, geradezu anbetungswürdige Mutter, einen Vater, der alles organisiert und der Gleichaltrige verbringt Ferientage voll Glück, Harmonie und Spaß. So gegensätzlich die beiden Jungen auch sind, so eng freunden sie sich an. Baptiste lebt dem Erzähler eine Fröhlichkeit und eine Unbeschwertheit vor, die dieser bislang noch nicht kannte, lediglich als Zuschauer geheim beobachtete, doch nun darf er zumindest zeitweise an diesem lang ersehnten Familienleben teilnehmen. Immer mehr wird er sich dadurch seiner eigenen familiären Zugehörigkeit bewusst und er beginnt, sich zu schämen.

Er stammt aus einer jüdischen Familie, die Großmutter ist eine Überlebende des Holocaust, spricht mit noch stark ausgeprägtem polnischem Akzent, seine Tante, die ebenfalls in dem angemieteten Stockwerk einer Strandvilla bei ihnen logiert, ist eine kauzige, befremdlich wirkende Frau, die so ganz abseits der „Norm“ lebt. Sie ist ungepflegt, raucht Zigarillos, hat eine derbe Art zu sprechen und kleidet sich ausgesprochen nachlässig – alles in allem keine Tante, auf die ein pubertierender junger Bursche stolz sein könnte. Er schämt sich seiner jüdischen Herkunft und ist zunehmend fasziniert von Baptistes Familie und dessen katholischer Religion mitsamt all ihrer rituellen Handlungen und erlebt in der mütterlichen Zuneigung von Baptistes Mutter ein bis dahin noch nie erlebtes tiefes Glück. Als er Baptiste von seinem Judensein erzählt, reagiert der neue Freund überraschend cool und mutiert damit in den Augen des Erzählers noch einmal mehr zu einem angebeteten Idol. Durch diese Freundschaft erlangt der Erzähler ein paar Momente der Sorglosigkeit, die die vermeintlich schwere Last der eigenen familiären Geschichte auf seinen Schultern zumindest für eine geraume Zeit zu mildern scheint. Doch das Ende ist bedrohlich, die Realität holt diese zarten Bande einer Freundschaft fernab des Alltags wieder ein.

Lindenbergs Debütroman wurde in Frankreich mit mehreren renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet, so auch mit dem Prix Liver Inter. Nun liegt der schmale, gerade einmal 160 Seiten fassende Band in einer sehr pointierten und wohldurchdachten Übersetzung von Lena Müller in deutscher Sprache vor. Der Text verliert dadurch nichts an seiner gefühlvollen und genauen Sprache, beschreibt wenige Wochen im Leben eines Außenseiters, dem eine unbeschwerte Kindheit bislang verwehrt blieb und der in einer Welt voll Geister der Vergangenheit und einem permanenten Gefühl der Unsicherheit, ja sogar der Bedrohung aufwächst. Ein großartiges Debüt, das einen langanhaltenden Eindruck hinterlässt und auf weitere Werke des französischen Autors Hugo Lindenberg hoffen lässt.

Titelbild

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein.
Aus dem Französischen von Lena Müller.
Edition Nautilus, Hamburg 2023.
168 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783960543114

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