Von Anfang und Ende

Louise Glücks Gedichtband „Treue und edle Nacht“ ist eine traumartige Reise

Von Carl ManzeyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carl Manzey

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Gedichtband der US-amerikanischen Nobelpreisträgerin Louise Glück folgen wir einem namenlosen Protagonisten in seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er ist eine Künstlerfigur. Im titelgebenden Gedicht Treue und edle Nacht erzählt er seine Geschichte aus der Ich-Perspektive: Ein kleiner Junge, dessen Eltern bei einem Autounfall sterben, der von seiner Tante großgezogen wird, in einem Zimmer mit seinem Bruder schläft, welcher nachts bei Taschenlampenschein Abenteuergeschichten liest.

Es geht um seinen Geburtstag, ein Tag, der „keinen Halt“ gibt. An diesem Tag findet eine Veränderung statt:

Da war etwas, wo nichts gewesen war. […]
Ich hatte erkannt, dass die Menschen sich scheiden
in solche, die vorwärtsstreben,
und solche, die zurückgehen.
Man könnte auch sagen solche, die lieber in Bewegung bleiben,
und solche, die sich aufhalten lassen
wie durch das flammende Schwert.

Die Reflexionen, die dieses kindliche Ich anstellt, sind durch eine Erwachsenenperspektive gebrochen, in der das damals Erlebte in literarischer Sprache verarbeitet wird. Das lyrische Ich verliert an diesem Tag seine Fähigkeit zu sprechen – um sie kurz darauf wiederzuerlangen.

Mich wunderte
weniger der Rückzug meiner Seele als
ihre Wiederkehr, weil sie mit leeren Händen kam –

Wie tief sie geht, diese Seele,
wie ein Kind im Kaufhaus,
das seine Mutter sucht –

Womöglich ist sie wie ein Taucher
mit gerade so viel Sauerstoff,
die Tiefe für ein paar Minuten zu ergründen –
dann schicken ihn die Lungen zurück.

Es sind beinahe spirituelle Texte, die die Autorin in freien Versen schreibt – eine lyrische Form, die ihr Gesamtwerk maßgeblich bestimmt. Die Sprache wirkt lakonisch, beiläufig, als würde das lyrische Ich einem Zuhörer das Erlebte in einem Gespräch erzählen. Gleichzeitig sind die Themen dieser Gedichte alles andere als alltäglich. Es geht um die großen Fragen, die schon immer von der Lyrik behandelt worden sind: nach dem Anfang und dem Ende, der Sprachfindung in der Sprachlosigkeit, der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz. Diese Fragen werden mal explizit gestellt und zu beantworten versucht (etwa im ersten Gedicht des Bandes, das die inneren Konflikte einer Pilgergruppe beschreibt, die sich über den Zweck ihrer Reise uneinig ist). An anderen Stellen werden sie anhand kleinerer, auf den ersten Blick unverfänglicher Episoden zu umreißen versucht. So wird eine Begegnung im Park zwischen zwei Menschen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, zur Reflexion darüber, ob eine wahrhafte Verbindung zwischen Menschen überhaupt möglich ist.

Die Gedichte wechseln sich ab mit kurzen Prosastücken, die in ihrer Prägnanz und ihrem allegorischen Gehalt auf die Kurzprosa Kafkas Bezug nehmen. Ein Mann, der einen Treppenaufstieg beschwerlicher findet als erwartet, setzt sich auf eine Stufe und steht nicht mehr auf. Eine Frau kommt mit einem kleinen Mädchen vorbei. Sie versuchen, den Mann zu umgehen, wobei die Frau ihrer Enkelin erklärt: „Wir müssen ihn schlafen lassen […]. Wir müssen leise vorbeigehen. Er hat die Stufe im Leben erreicht, wo man es weder erträgt, zum Anfang zurückzukehren, noch zum Ende zu kommen“. Doch die Enkelin – in ihrem reflexiven Bewusstsein für ein Kind so weit fortgeschritten, wie es für die kindlichen Figuren in diesem Band von Glück charakteristisch ist – setzt sich neben den Mann und rezitiert ein hebräisches Totengebet. „Wenn Sie dies wieder hören, sagte sie, machen Ihnen die Worte vielleicht weniger Angst, wenn Sie sich erinnern, wie Sie sie zum ersten Mal hörten, aus dem Mund eines kleinen Mädchens.“

Immer wieder wird in Treue und edle Nacht auf Künstlerfiguren rekurriert, die in ihrer Bandbreite eine ganze Reihe lyrischer Existenzen umfassen. Ein Schriftsteller etwa, der, bevor er eine neue Geschichte beginnt, das Wort „Ende“ auf ein Blatt Papier schreibt und es mit einem Stapel leerer Seiten verdeckt. „Nur dann fiel ihm eine Geschichte ein, verhalten und vornehm im Winter, freier im Sommer. Auf diese Weise war er zu einem geachteten Meister geworden.“ Seine eigene Ordnung wird durchbrochen, als ein Winterwind im Sommer den Stapel Papier durcheinanderwirbelt und so „die beschriebenen und unbeschriebenen mischte, darunter auch das Ende.“ Eine solche Prosa-Miniatur lässt sich am ehesten als Allegorie auf den künstlerischen Schaffensprozess als solchen verstehen. Andere Texte im Band sind erzählerischer, scheinen eine fortlaufende Geschichte weiterzuspinnen, die sich im titelgebenden Gedicht initiiert. Der Text „Die weiße Reihe“ zum Beispiel, in dem das lyrische Ich aus den früheren Gedichten aufgegriffen wird, das seinen Bruder besucht und aus einer Schaffenskrise findet, indem es immer wieder ausschließlich weiße Bilder malt, ohne den Grund für diese kreative Ausdrucksweise zu begreifen.

Der Gedichtband, der in seinen wiederkehrenden Motiven und erzählerischen Fragmenten eine geradezu hypnotische Dichte besitzt, einen Sog, dem man sich beim Lesen kaum entziehen kann, wurde von Uta Gosmann übersetzt, die bereits Werke von Louise Glück, Susan Howe und Ellen Hinsey übersetzt hat. Die Übertragungen ins Deutsche sind gelungen, treffen den Ton der amerikanischen Lyrikerin, auch wenn manche Passagen, besonders diejenigen, in denen der trockene Humor der ansonsten eher gehobenen Sprache anklingt, nicht eins zu eins zu übersetzen sind. Im Gedicht „An Adventure“, in dem das lyrische Ich auf einem Pferd in die Nacht ausreitet, heißt es: „Neigh, neigh, said my heart, / or perhaps nay, nay – it was hard to know.” Solche Wortfiguren sind in ihrem Witz schwer zu übertragen, weshalb es einen deutlichen Lesevorteil bietet, dass die Gedichte in beiden Sprachen nebeneinander abgedruckt sind. So kann die eine mit der anderen verglichen werden.

Treue und edle Nacht ist zu empfehlen für Lesende, die präzise, dichterische Sprache in Verbindung mit erzählerischen Elementen genießen wollen und bereit sind, einem lyrischen Ich, das eigentlich aus einer Vielzahl von Ichs besteht, in verschiedene traumartige, aber auch biographische Situationen zu folgen. Durchbrochen von allegorischen Verweisen auf künstlerisches Schaffen wird eine Welt erzeugt, in die sich zu treten lohnt, um vielfältigen künstlerischen oder spirituellen Eindrücken nachzugehen. Einige der Verse, die Louise Glück in ihrem Werk äußert, sind definitiv erinnerungswürdig. Die Reise in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer unbestimmten Ich-Figur ist ohne Frage ein literarisches Erlebnis.

Titelbild

Louise Glück: Treue und edle Nacht. Gedichte – Zweisprachige Ausgabe.
Aus dem Englischen von Uta Gosmann.
Luchterhand Literaturverlag, München 2023.
160 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783630876993

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