Was den Künstler zum Arbeiten treibt

Manfred Zoller legt seinen Künstler-Briefwechsel vor – ein halbes Jahrhundert ostdeutscher Kunstreflexion eröffnet sich

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Bilde, Künstler! Rede nicht!“ – dieses Wort hat Goethe zwar an die Dichter gerichtet, aber es gilt ebenso den bildenden Künstlern. Und eigentlich reden auch Künstler nicht gern über ihr Werk. Sie sind zwar bereit, handwerkliche Erläuterungen zu geben, fordern aber den Betrachter auf, selbst zu sehen und sich ein Urteil zu bilden. Was sie jedoch miteinander und untereinander bereden, wie sie sich selbst beurteilen und mit dem Werk des anderen in Beziehung setzen, was sie so tun und denken, das bleibt der Öffentlichkeit verborgen, das können auch Ausstellungen, selbst professionelle Kunstkritiken nicht vermitteln. Wenn die Künstler nicht selbst ein theoretisches Verständnis zur Offenlegung drängt, sind es einzig und allein ihre Briefe, die sie miteinander wechseln, die Auskunft über ihr Wollen und Tun vermitteln, wenngleich sie heute auch weitgehend durch nur noch Momentsituationen signalisierende digitale Nachrichten abgelöst werden.

Der Maler, Bildhauer und Künstleranatom Manfred Zoller hat jetzt eine Sammlung von Briefen zusammengestellt, die er seit den 1970er Jahren von seinen jeweiligen Wohn- und Schaffensorten Rostock (dort war seine Adresse „Kehrwieder 4“ – titelgebend für diesen Band), Dresden, Berlin und Bergfelde bei Berlin an ostdeutsche Künstler, auch Kunstwissenschaftler – 57 an der Zahl – geschrieben hat und die diese an ihn verfasst bzw. beantwortet haben. Die Künstler schreiben über ihre Arbeit, ihre Entdeckungen und Krisen, ihre Kunst- und Literaturerlebnisse, ihre Eindrücke von Ausstellungen, ihre Reisen und Studienaufenthalte und vieles mehr. Das sind keine wohlabgewogenen Überlegungen, sondern Beweggründe, der jeweiligen Situation oder dem gegebenen Anlass geschuldet, mentale Befindlichkeiten, Erlebnisse, Einfälle, die ihnen mitunter erst beim Schreiben durch den Kopf gegangen sind – und gerade das macht diese Briefzeugnisse zu einem besonderen Leseerlebnis. Insgesamt geben sie ein höchst anschauliches Bild vom Leben und Wirken ostdeutscher Künstlerinnen und Künstler – ja überhaupt von der ostdeutschen Kunstreflexion – vor und nach der Wende.

Zunächst zu Manfred Zoller. Als Künstler, Wissenschaftler und Hochschullehrer – mit Gestalt und Anatomie (2000) schrieb er ein nicht nur von Studierenden genutztes Lehrbuch für gestalterische Grundlagenfächer – hat er eine morphologische Sicht auf die stetig sich verwandelnden Gestalt-Phänomene der Natur, des tierischen und menschlichen Körpers wie überhaupt auf die ganz andere Welt des Bildnerischen. Durch eine geometrische Interpretation der Natur will er seinen Bildern eine stabilere Organisation, den Sujets – egal, ob es sich um Porträts, Körper, Figurenbilder, Stillleben, Stadt- und Naturlandschaften oder um Farb-Form-Studien handelt – eine neue Festigkeit und Realität geben. Die Figuren und Gegenstände sind in dunkeltonige Farbräume, in einer geradezu tektonisch anmutenden Ordnung der Valeurs eingebettet. Seine Bild- und Objektkästen, die gerahmten Reliefs, sind als dreidimensionale Umsetzungen der Malerei und als zeitversetzte Reaktion darauf in einer erweiterten Materialsprache zu verstehen. Dieses Spiel mit Formen und Materialien, mit den Bedeutungen der gefundenen und zu neuen Gebilden gefügten Objekte – es ist ja auch ein Spiel mit verschiedenen Realitäten – beherrscht Zoller perfekt.

Blättert man nun in seiner Briefsammlung, so fallen gleich die prägnanten Bemerkungen einer der wichtigsten Zeichner-Persönlichkeiten der DDR auf, des 1993 verstorbenen Gerhard Kettner. Der Rektor der Kunsthochschule in Dresden empfahl 1985 seinem ehemaligen Meisterschüler und nunmehrigen Hochschul-Kollegen Zoller, er solle sein künstlerisches Werk in Ruhe reifen lassen, dem „gesellschaftlichen Zwang zur Produktion“ ausweichen. In rigoroser Selbstbehauptung ausschließlich auf die Zeichnung und Lithografie hat sich Kettner selbst die Konzentration auf Wesentliches, die Gelassenheit des Warten-Könnens, förmlich anerzogen. In seinen Porträts kann der nervöse Strich, die ruhige, lange Linie, das kraftvolle Verstärken oder verlaufende Erschlaffen erschüttern wie beglücken.

Als sich Zoller 1973 bei Kettner in der Dresdner Hochschule vorstellte, ließ dieser nach gründlicher Durchsicht von dessen Arbeiten wissen: „Sie können wiederkommen“. Aber schon viel früher – 1970 – war Zoller mit seinen Zeichnungen im Rostocker Bildhauer-Atelier von Jo Jastram erschienen und seitdem verband ihn mit diesem und dann auch mit Inge Jastram, der Malerin, Zeichnerin und Grafikerin, eine enge Freundschaft. Diese ersann jeweils neue, in Habitus und Physis kontrastierende Frauentypen, in denen sich das Gefährliche mit dem Spielerischen vermischt und die Kaltblütigkeit der Großstadtwelt mit der spöttischen Aggressivität der Selbstbehauptung. Dagegen leben die Figuren des 2012 verstorbenen Jo Jastram von der zeichenhaften Kraft der Gebärde: In einer entscheidenden Situation ist ihr Bewegungsablauf angehalten, „eingefroren“; aber in diesem einen Moment ist das, was vorher oder nachher geschieht, mit einbezogen. Das Urmotiv von Pferd und Mensch wird in einer Fülle von Variationen erlebt, bis zur Katastrophe des Sturzes und zum Tod. Ein modernes, genetisches Lebenssymbol.

Der Bildhauer Baldur Schönfelder  – er war Zoller ein verständnisvoller Kollege an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee – reflektiert über die menschliche Figur in der Bildhauerei. Als sein Credo gilt: „Die Anwesenheit des Menschen in Gestalt seiner Abwesenheit“. Der Berliner Bildhauer Berndt Wilde, ebenfalls ein Kollege Zollers in Weißensee, stellt die signalisierenden Möglichkeiten der Gliedmaßen in das Zentrum seines Schaffens. Eine große strömende Energie formt seine Körper. Die Handlung ist ins Innere verlegt, das Ereignis liegt in der Tiefe des eigenen Schicksals, Mensch zu sein, nicht im äußeren Vorkommnis. Die Figuren flüchten nicht vor sich selbst, nicht vor dem Schicksal, das sie prägt, das in sie eingegangen ist.

Wenn für den Maler und Zeichner Wolfgang Leber, einem wichtigen Vertreter der Berliner Schule, der Aufbruch zur Fläche, wie er an Zoller schreibt, als Wesen der Moderne gilt, dann ist gerade er es, dessen Malerei Modelle der räumlich-architektonischen Umwelt auf der Fläche darstellt. In seinen Bildräumen ist jedes persönliche Erinnerungsstück vermieden, das als Attribut eines Menschen verstanden werden könnte. Seine Figuren sind Kunstfiguren aus ineinander verzahnten, kontrastierenden Elementen, die ganz unterschiedliche Ausdrucksformen erzeugen. Das Sichtbare soll verborgen, das Verborgene zugleich wieder sichtbar werden. Es sind Bilder von spröder Weltangst, Zeit-Zeichen gegen Gefährdung, Entfremdung, Bedrängnis und Erstarrung.

Auch die 2004 in Berlin verstorbene Graphikerin und Zeichnerin Christine Perthen hatte ein ambivalentes Verhältnis zum Raum, speziell zum architektonischen Raum. Er war für sie Schutz, Behausung wie Begrenzung, Abgrenzung, aber auch Eingrenzung, Einengung, Gefängnis. Lebensräume, so auch der Titel einer Radierfolge, sind den Menschen aufgegeben, ihnen können sie sich nicht entziehen. Piranesis Carceri-Blätter finden in den grafischen Raum-Labyrinthen Christine Perthens ihre Entsprechung und Entgegensetzung. Die Atmosphäre von Verunsicherung und Bedrohung hatte den Blick der Künstlerin, die seit 1993 auch als Professorin an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee tätig war, für die Symptome unserer Existenz geschärft. Analysierend suchte sie in die Tiefe menschlicher Psyche vorzustoßen. Diese Bloßlegung innerer Strukturen gleicht einem „Unter-die-Haut-Gehen“, das den Menschen enthäutet, Muskel- und Nervenstränge freilegt und einen synonymen Ausdruck für Seelenzustände zu gewinnen sucht.

Harald Metzkes, der Altmeister der Berliner Malschule, äußert sich zu einem Text Zollers über die Dresdner Schule (1994) und geht auch auf dessen Anregungen zu Metzkes aquarellierten Zeichnungen zu Laurence Sternes Tristram Shandy (2002) ein. In Metzkes‘ Werken kann jeden Augenblick die Situation umkippen, das labile Gerüst vor Publikum, so auch der Titel eines Bildes von 1992, droht, jeden Moment zusammenzustürzen. Die komplexe Überlagerung von Themen, die psychologisch und symbolisch vielfältigen Deutungen offenstehen, taucht die Szene ins Geheimnisvolle und verleiht ihr ihre poetische Dimension. Die perspektivische Verkehrung und Verkürzung, die Proportionsverzerrung, die Lokalisierung von Figuren und Gegenständen – alles bricht hier mit dem Kanon der traditionellen Darstellungsweise und rechtfertigt so vielleicht den Ausdruck eines „fallenstellenden“ Realismus. Metzkes   durchmisst die weite Strecke von der Komödie bis hin zum absurden Theater, es ist eine Reise in die Illusionslosigkeit, und es gelingt ihm, das Erschreckende so deutlich sichtbar zu machen wie kaum einem.

Der Maler und Grafiker Ronald Paris spricht in seinen Briefen darüber, dass er mit seinen Studien vor Ort – dem „Erlebnismaterial“ – erst im Atelier „frei umgehen“ könne. Mal experimentierte er mit symbolischer Abstraktion und Verhärtung der Form, dann wieder mit raumbezogener Statuarik oder flutenden Bildräumen und Raumverschränkungen. Die sinnliche Auslegung der Farbe führte ihn ebenso zu dramatischen Farbklängen und glutvoller Bewegtheit wie zu gefühlvollen milden Valeurs. Schon als Neunundzwanzigjähriger – 1961 – bekannte er: „Ich suchte Entsprechungen, um unsere heutige Zeit darzustellen…“ Das ist eine Schaffensmotivation für ihn bis zu seinem Tod 2021 geblieben.

Und man darf natürlich den Briefschreiber Manfred Butzmann nicht vergessen, jenen engagierten, bürgerbewegten Künstler, der sich mit aufklärerischem Intellekt, verschmitztem Humor und hintergründiger Ironie – manchmal stellt er nur Fragen, aber Fragen mit Fußangeln – in die Belange der Gesellschaft einmischt, die ja doch unsere Belange sind. So könnte man noch viele andere nennen, das Goethe-Wort „Bilde Künstler, rede nicht!“ scheint für diesen Band nicht zu gelten, obwohl Wolfgang Leber ihm beipflichtet („Bilder zu erklären, ist nicht unsere Aufgabe“). Was Zoller über seine „Weißenseer Nachbarin“ Christine Perthen sagt („Vertrauen, Offenheit (und viel Spaß) bei gleichzeitigem Abstand in privaten Dingen“), könnte als Qintessenz aller Briefbeiträge gelten…

Als Herausgeber der Briefe hält sich Zoller allerdings sehr im Hintergrund, gibt zwar eine chronologische Einführung seiner Lebensabschnitte und Wohnorte  sowie ein biografisches Gerüst der Briefschreiber, fügt auch Werk-Abbildungen, Fotos der Künstler, Kopien der Briefe hinzu, hätte aber auch manche Zusammenhänge in den Briefen, die sich dem Leser nicht sofort erschließen, oder den Inhalt von nicht mehr auffindbaren Briefen – und gerade von Zoller selbst fehlen nicht wenige – erläutern müssen, weil so mitunter Verbindungsglieder nicht präsent sind.

„So, nun gehe ich malen“, beendet Sabine Curio ihren Brief von 1987 an Manfred Zoller. Wir Leser sollten aber doch noch bei dieser so anregenden Briefsammlung verweilen, uns festlesen, uns unseren Überlegungen überlassen. 

Titelbild

Manfred Zoller: Kehrwieder 4. Künstlerbriefe nach Rostock, Dresden, Berlin und Bergfelde.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023.
252 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783963117909

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