Russische Geschichtsmythen und der Krieg

In seiner Studie „Der Fluch des Imperiums“ versucht Martin Schulze Wessel den Ukraine-Krieg historisch zu erklären

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 20. September 2023 sagte der russische Außenminister Lavrov sinngemäß vor der UN-Vollversammlung, der Westen trage allein die Schuld am Krieg in der Ukraine, habe er sich doch fortgesetzt in deren innere Angelegenheiten eingemischt. Verwundert rieb man sich die Augen. Ist es nicht üblicherweise so, dass der Staat, in dessen innere Angelegenheit andere sich einmischen, sich selbst darüber beschwert? Hier zeigt sich, dass Russland die Ukraine nicht als selbstständigen Staat ansieht.

Man kann das neue Buch des Münchener Osteuropahistorikers Martin Schulze Wessel als ausführliche Erklärung des denkwürdigen Satzes von Lavrov lesen. Der Autor zeigt darin die Kontinuitäten und – wenigen – Brüche russischer imperialer Außenpolitik seit der Zeit Peters I. und Katharinas II. auf. Er wählt bewusst einen Erklärungsrahmen, der „eine mittlere historischen Tiefe“ hat, und verzichtet darauf, Linien bis zurück ins Mittelalter zur Kyiver Rusʼ oder ins 16. Jahrhundert zu Ivan IV. („dem Schrecklichen“) zu ziehen.

Bei der Schreibung slavischer Namen und Begriffe bedient sich Schulze Wessel der wissenschaftlich gebräuchlichen Umschrift, was für Nicht-Slavisten zunächst ungewohnt ist. Michail Gorbatschow erscheint so als Gorbačev und Boris Jelzin als Elʼcin. Ukrainische Ortsnamen werden gemäß den landesüblichen, nicht russischen Bezeichnungen transkribiert, also nicht Kiew, sondern Kyiv.

Das Buch ist einerseits ein Beitrag zur Osteuropaforschung, der auf ältere und neueste Studien referiert, andererseits ist es eine allgemeinverständliche Darstellung, geeignet auch für Leserinnen und Leser, die sich mit ost- und ostmitteleuropäischer Geschichte bislang wenig beschäftigt haben. Der Text wird durch sechs Geschichtskarten und 22 Abbildungen, eine Auswahlbibliographie sowie ein Personenregister ergänzt. An manchen Stellen werden durch kursiv gesetzte Abschnitte Gegenwartsbezüge hergestellt, um die es auch in der Einleitung und im Schlusskapitel geht.

Titel und Untertitel lassen darauf schließen, dass das Buch auch als Streitschrift gemeint ist. Die Hauptthese des Autors lautet, dass sich die russische Außen- und Sicherheitspolitik seit Jahrhunderten auf einem imperialen „Irrweg“ befindet, der letztlich eine Geschichte territorialer und machtpolitischer Überdehnung ist. Davon betroffen sind vor allem das Baltikum, Polen und die Ukraine, im weiteren Sinn der Schwarzmeerraum und Südosteuropa. Auf diesen Weg begab sich Russland unter Zar Peter I., der im Nordischen Krieg (1700 bis 1721) nach dem Sieg bei Poltava über den mit dem ukrainischen Hetman Mazepa verbündeten schwedischen König Karl XII. die Vorherrschaft über den Ostseeraum errang.

Im 18. Jahrhundert verlagerte sich das russische Machtinteresse nach Süden, was auch mit veränderten Handelsinteressen zusammenhing. Die Schwäche des Osmanischen Reichs war Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts mitursächlich für mehrere russisch-türkische Kriege. Die Niederlage der Türken im Krieg von 1768 bis 1774 wurde im hierzulande kaum bekannten, aber bedeutenden Frieden von Kücük-Kaynarca besiegelt, der für das russische Zarenreich unter Katharina II. ein wichtiger Schritt zur Erringung einer Vormachtstellung im Schwarzmeerraum war. Interessanterweise wurde in diesem Vertrag dem Khanat der Krim die Unabhängigkeit zugesichert. Neun Jahre später brach die Zarin den Vertrag, indem sie, nicht zuletzt auf Drängen ihres Geliebten, Fürst Potemkin, die Krim annektierte. Schon vorher hatte eine zielgerichtete Russifizierung, verbunden mit einem Exodus der Krimtataren, eingesetzt. Potemkin war außerdem federführend bei der Verwirklichung des Projekts Neurussland (Novorossija) im Gebiet an und nördlich der Schwarzmeerküste. Der Name tauchte nach der Annexion der Krim 2014 in der russischen Propaganda wieder auf.

Eine zukunftsträchtige Entscheidung hatten die Kosaken nach einem von Bohdan Chmelʼnycʼkyj angeführten, letztlich gescheiterten Aufstand gegen die polnisch-litauische Adelsrepublik im Jahr 1654 getroffen: Sie schworen einen Treueid auf den Zaren und unterstellten sich seinem Schutz. Die ukrainische Geschichtsschreibung interpretiert diesen Schritt als einen Bündnisvertrag, die russische hingegen als Wiedervereinigung, die 1954 pompös gefeiert und mit der Übergabe der Krim an die ukrainische Sowjetrepublik besiegelt wurde.

Für Russland verhängnisvoll waren nach Schulze Wessel die drei Teilungen Polens, weil sie das Zarenreich wegen der immer wieder aufflammenden Aufstände im russischen Teil Polens an die konservativen Mächte Preußen und Österreich band. Besonders Preußen, das seine eigenen Erwerbungen aus den polnischen Teilungen nicht verlieren wollte, unterstützte Russland bei der Niederschlagung der Aufstände von 1830/31 und 1863. Nach dem Wiener Kongress waren die drei konservativen Herrscher, der russische Zar, der österreichische Kaiser und der preußische König, in der Heiligen Allianz gegen die liberalen Westmächte Frankreich und England verbunden gewesen. Im Krimkrieg, den Russland verlor, blieben Preußen und Österreich neutral. Die polnische nationale Frage engte den Spielraum russischer Außenpolitik über lange Zeit ein.

Zwar führten das Deutsche Kaiserreich und Russland im Ersten Weltkrieg gegeneinander Krieg, jedoch kam es schon vier Jahre nach dem Versailler Friedensschluss erneut zu einer deutsch-(sowjet-)russischen Kooperation auf der Grundlage des Vertrags von Rapallo. Mit Gründung der Sowjetunion (Dezember 1922) wurde die Ukraine nach kurzer Eigenstaatlichkeit zur Sowjetrepublik, der im Rahmen einer Politik der „Verwurzelung“ (korenizacija) eine gewisse kulturelle Autonomie zugestanden wurde.

Als Stalin dann vom proletarischen Internationalismus auf die Doktrin vom Aufbau des Sozialismus in einem Land umschaltete, endete allerdings die kulturelle Toleranz. Es scheiterte „die Politik der Nationalisierung in der Kultur“, und es kam zum berüchtigten Holodomor, der gezielten Aushungerung der Ukrainer. Von der ukrainischen Kulturtradition blieb im kulturellen Gedächtnis der Sowjetunion vor allem der Dichter Taras Ševčenko (1814-1861) übrig, dem 1934 in Charkiv ein Denkmal errichtet wurde. In den Bereichen Politik, Ökonomie und Kultur gingen die nationalrussische und die sowjetimperialistische Ideologie eine zunächst nicht zu erwartende Verbindung ein. Ungeachtet der Interessen der einzelnen Republiken war das Entscheidungszentrum des Gesamtstaats Moskau.

Den Hitler-Stalin-Pakt, den heute Putin als klugen, gar friedenssichernden Schachzug Stalins interpretiert, ordnet Schulze Wessel in die Tradition gewaltorientierter russischer Polenpolitik ein, allerdings wurde „die Kriegshandlung rhetorisch als Fürsorge kaschiert“. Stalin überließ Hitler das Zentrum Polens mit Warschau, weil dort Aufstände zu erwarten waren, und beanspruchte für sich den Rest, einschließlich zu Polen gehörendender ukrainischer und belorussischer Gebiete, deren Bevölkerung angeblich geschützt werden sollte, sowie das Baltikum und Bessarabien.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es Stalin, gegenüber den Westmächten seinen Anspruch auf die eroberten Gebiete aufrechtzuerhalten und die Westverschiebung Polens durchzusetzen. Im Rahmen der sowjetischen Suprematie über Ostmitteleuropa war das Problem der Existenz eines polnischen Nationalstaats gelöst, während die ukrainische nationale Frage weiterschwelte, zuweilen Konflikte hervorbrachte und erst nach Auflösung der UdSSR 1991 mit der Gründung des ukrainischen Staats beantwortet wurde. Diese Lösung wird seit 2014 und vor allem seit dem 24. Februar 2022 vom Kreml massiv in Frage gestellt.

Zur Frage, welchen Nutzen man aus der Kenntnis all dessen, was Schulze Wessel in seinem Buch ausführlich darstellt, ziehen kann, stellt er in seinem Schlusswort eine bedenkenswerte Überlegung an:

Ohne Imperium könnte Russland ein euro-asiatisches Kanada werden, ein großer Flächenstaat mit einer gut ausgebildeten Bevölkerung und einem attraktiven Bildungssystem, reich an Industrie und Rohstoffen, mit guten Autonomie-Lösungen für die verbleibenden ethnischen Minderheiten, geachtet in der internationalen Staatenwelt. Warum ergreift Russland nicht diese Chance, um die es viele Völker in der Welt beneiden würden? Wie gelingt es den Propagandisten des imperialen Lagers, nicht nur am Imperium festzuhalten, sondern es auch als positiven Identitätsentwurf zu vermitteln, demzufolge „russisch sein“ nicht denkbar ist ohne dieses Imperium? Und einen Krieg zu führen, der Russland selbst im unrealistischen Erfolgsfall nichts bringt als die Bekräftigung der kostspieligen imperialen Rolle und der damit verbundenen problematischen Identität?

Schulze Wessel sieht den tieferen Grund für den russischen „Irrweg“ in „Kulturmuster[n], die auf der Grundlage von mächtepolitischen Traditionen und außenpolitischen Erfahrungen entstanden sind.“ Dazu gehören die Gleichsetzung Russlands mit dem Imperium, der Panslavismus, die aus dem Zarenreich in die Sowjetunion fortwirkende russozentrische Auffassung vom Staat, die Überzeugung von der kulturellen Überlegenheit Russlands über den Westen, die „symbolische Russifizierung“ des Zweiten Weltkriegs, der von Stalin zum „Großen Vaterländischen Krieg“ erklärt wurde und heute für die Mythisierung der sogenannten „militärischen Spezialoperation“ gegen die Ukraine instrumentalisiert wird.

Das zuweilen zu hörende Argument, die NATO-Osterweiterung habe eine Reaktion Russlands provozieren müssen, somit sei der Westen mitverantwortlich für den Krieg, beantwortet Schulze Wessel indirekt mit dem Satz:

Die ostmitteleuropäischen Staaten, aber auch die baltischen Staaten, die Teil der Sowjetunion gewesen waren, nahmen ihr Recht der freien Bündniswahl wahr und wurden Mitglieder in der Europäischen Union und der NATO, was die russische Regierung völkerrechtlich akzeptierte.

Auf die Behauptung des Putin-Regimes (sowie einiger westlicher Kritiker der Waffenlieferungen an die Ukraine), dass der Maidan-Aufstand, der zum Sturz des Präsidenten Janukovič führte, ein vom Westen/den USA/der CIA gesteuerter Putsch gewesen sei, geht Schulze Wessel ebenfalls nicht direkt ein. Für ihn stellt der Maidan „[m]it seiner Mobilisierungskraft, die das ganze Land erfasste, […] eine Manifestation der volonté générale dar“. Er spricht von der „Fundierung des neuen Staats durch revolutionären Volkswillen“.

Eindringlich macht der Autor auf Putins Essays zur Geschichte aufmerksam, denen hierzulande zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Schulze Wessel nennt ihn einen „Amateurhistoriker der schlimmsten Art“. Ein besonders aufschlussreiches Foto in dem Band zeigt Putin, wie er am 18. November 2017 ein riesiges Denkmal des Zaren Alexander III. auf der Krim einweiht. Die Bildunterschrift verweist auf „Putins role model“. Es war dieser Zar, der die Reformen seines Vaters zurücknahm, mit pompöser Herrschaftssymbolik prunkte, die Verbindung von Staatsgewalt und orthodoxer Kirche stärkte und den ideologisch aufgeladenen Begriff „russisches Land“ (russkaja semlja) verwendete.

Das fachlich fundierte, sehr informative Buch ist zur Lektüre zu empfehlen, nicht zuletzt deshalb, weil es wegen seiner dezidierten Thesen zum gegenwärtigen Krieg zur Diskussion anregen kann.

Titelbild

Martin Schulze Wessel: Der Fluch des Imperiums. Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte.
Verlag C.H.Beck, München 2023.
352 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783406800498

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