Aus Hipstern werden Millionäre

Georg M. Oswalds Roman „In unseren Kreisen“ bringt eine mittelständische Familie mittels Erbschaft in die Bredouille

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem sich die exzentrische Tante Rose in einem Züricher Sterbehilfeinstitut mit Hilfe eines Giftcocktails vom Leben zum Tode bringen lassen hat, erfahren Tatjana Sandmann, Kuratorin in einem staatlichen Museum, und ihr Mann, der Schriftsteller Nikolai, dass die Tante ihre einzige Nichte testamentarisch als Alleinerbin eingesetzt hat. Und so sieht sich die Familie Sandmann plötzlich im Besitz einer hochherrschaftlichen Villa sowie der nötigen Geldmittel, um das Prachtbauwerk zu erhalten sowie sich selbst, da man sich zum nicht mit Reichtümern gesegneten „Fußvolk des Kulturbetriebs“ rechnet, das Leben hinfort deutlich zu erleichtern. Also steht als Nächstes ein Umzug aus ihrer sanierten Altbauwohnung ins noble Philosophenviertel an, jene Gegend am Stadtrand, wo die Villa steht, in der der verstorbene Mann der Tante, ein Psychoanalytiker und Wilhelm-Reich-Schüler, wie sein Meister Vertreter der Orgontherapie, bis zu seinem Tod praktiziert hatte. Doch was zunächst wie ein großes Glück, ein formidabler Lottogewinn aussieht, besitzt auch eine Kehrseite.

Denn eigentlich – so denkt vor allem Nikolai – passen die Sandmanns, ein „immer noch junges, aber nicht mehr ganz junges Akademikerpaar“, das bisher auf knapp 60 Quadratmetern in einem Stadtbezirk lebte, in dem sich ihresgleichen in den letzten Jahren eine gemütliche Umgebung geschaffen hatte, gar nicht in das neue Milieu. Und es vergeht kaum ein Tag, an dem er, wenn er an das denkt, was man hinter sich gelassen hat und das „gut war, so wie es war“, nicht auch ein bisschen Wehmut empfindet. Ehefrau Tatjana und Tochter Marie hingegen fällt es deutlich leichter, sich an das neue Leben zu gewöhnen. Der Wechsel des Lernorts in eine katholische Privatschule macht der Zehnjährigen – deren Schulkarriere gerade jetzt, da es um den Wechsel ins Gymnasium geht, ihr Allzeittief erreicht hat – wieder mehr Lust aufs Lernen. Und Tatjana entdeckt nicht ohne Freude, dass sich selbst die ärgsten Probleme mit Geld lösen lassen. Und davon hat man ja jetzt genug.

Georg M. Oswalds (Jahrgang 1963) neunter Roman ist ein Bericht aus der Mitte unserer Gesellschaft. Er erzählt von Menschen, die beruflich nach „Selbstverwirklichung“ streben und privat immer das zu tun versuchen, was nicht nur gut für sie selbst ist, sondern allen nützt:

Dazu gehörte ein achtsamer, sorgfältiger und auch geschlechtersensibler Sprachgebrauch, fair gehandelter Kaffee, Mülltrennung, Verzicht auf Fleisch, und wenn das nicht möglich war, dann wenigstens welches vom Biometzger, […], keine Billigklamotten, keine, oder doch so wenig wie möglich Flugreisen, und so weiter und so weiter.

Man trifft sich in alternativen, hippen Cafés, bevorzugt für den Einkauf vegane Biomärkte, zieht die kleine, ebenso freundliche wie unscheinbare Buchhandlung an der Ecke den Vertretern der großen Ketten im Stadtzentrum vor und diskutiert im Freundeskreis über Lebensprojekte, die richtige Work-Life-Balance und Yogakurse. Anders gesagt: Tatjana und Nikolai gehören zu jenen Menschen, die sich nicht für privilegiert halten, es im Grunde aber natürlich sind, weil sie sich sowohl von denen unterscheiden, über die sie sich sozial hinausgearbeitet haben, als auch von jenen, in deren Nähe Tatjanas Erbschaft die Familie jetzt plötzlich befördert.

Doch was macht dieser Wechsel aus dem urbanen Mittelstand ins Großbürgerliche aus Oswalds Figuren? Ist man wirklich „angekommen“, wie das Wort lautet, das der Roman wie ein Leitmotiv immer wieder anspielt und mit dem er auch schließt? Die neuen Nachbarn jedenfalls scheinen in Ordnung zu sein. Sogar im Asylantenheim packen die Hoffmanns mit an. Und sie haben nichts dagegen, dass man sich gemeinsam an ihrem Indoor-Pool amüsiert, betreiben ihr Auto natürlich mit Strom und geben sich auf den Partys, die sie regelmäßig veranstalten, modern und umweltbewusst. Sven Hoffmann nimmt Nikolai unter seine Fittiche und erklärt ihm auf einer Rundfahrt in seinem schicken BMW das Viertel und seine Besonderheiten. Sabine erscheint gleich am Tag ihres Einzuges, um sie als neue Nachbarn mit einer Pizza (natürlich Vegetaria) willkommen zu heißen.

Das Idyll wird brüchig, als ein weiterer Bewohner des Viertels auftaucht – von Sven Hoffmann mit hochgerecktem Mittelfinger begrüßt, aber zur Party natürlich eingeladen, schließlich hält man im Wohngebiet zusammen. Dieser Lothar Eversmeyer ist offensichtlich der Außenseiter in der Nachbarschaft, ein „aggressiver Eigenbrötler“, mehr geduldet als gemocht, der es dennoch ziemlich schnell fertigbringt, Tatjanas und Nikolais sich langsam entwickelndes, ihrer neuen Umgebung angepasstes Welt- und Menschenbild zu erschüttern. Mit dunklen Anspielungen und verstörenden Fragen unterminiert er bei jedem Zusammentreffen mit ihnen das wachsende Gefühl der Sandmanns, wirklich hierherzugehören.

Denn wenn die beunruhigende Information tatsächlich stimmt, dass es sich bei ihrem neuen Zuhause um ein Gebäude handelt, das bis 1938 im Besitz der jüdischen Arztfamilie Hertz war, die damals gezwungen wurde, es zu verkaufen, um die sogenannte „Judenvermögensabgabe“ gegenüber dem Finanzamt zu leisten – wie soll man auf diese schockierende Tatsache reagieren? „Konnten sie in einem Haus leben, dessen Erbauer erniedrigt, entrechtet, ermordet worden waren?“, lautet die Frage, die sich die Sandmanns ab sofort stellen.

Doch was tun? Die Villa zurückgeben? Aber die ehemaligen rechtmäßigen Besitzer, die kinderlosen Julia und Richard Hertz, waren, nachdem Richard als Chefarzt einer  Kinderklinik und die dort mit ihm gemeinsam ebenfalls als Ärztin arbeitende Julia ihre Approbation verloren hatten, 1941 als Juden nach Kaunas deportiert und dort erschossen worden. Nachfahren der Familie leben zwar noch in den USA, doch die Villa war durch einen Bruder von Richard Hertz, der in den 1950er Jahren eine Besitzrückübertragung an die Familie gerichtlich erkämpft hatte, sofort zugunsten einer Stiftung zur Förderung der Kinderheilkunde wiederverkauft worden. Ist damit rechtlich nicht eigentlich alles in bester Ordnung?

Es ist eine moralische Klemme, in der Tatjana und Nikolai Sandmann am Ende von Georg M. Oswalds Roman stecken. Und sie lösen sie ganz pragmatisch. Denn wenn ihnen ihre Moral geböte, „das Haus zu verkaufen, das Geld zu spenden, zurückzukehren in ihr früheres Leben“, wäre das Problem ihrer unverdienten Privilegierung ja damit nicht aus der Welt geschafft. Die moralischen Einwände gegen das Leben, welches sie seit ihrem Umzug ins Philosophenviertel führten, würden sich ja letzten Endes auch gegen ihr früheres Leben richten, denn „immer schon waren sie, letztendlich vollkommen unverdient, unfassbar privilegiert gewesen.“ Gegen das Glück ihrer Herkunft – geboren zu sein „auf diesem Kontinent, in diesem Land, in dieser Stadt, zu dieser Zeit, in dieser Gesellschaftsschicht, mit diesem soziokulturellen Hintergrund, mit dieser Hautfarbe, mit diesen persönlichen und charakterlichen Befähigungen“ – ließ sich im Grunde nicht argumentieren. Also warum sich nicht ins Gegebene fügen, denn: „Wer sollte ihnen streitig machen, hier zu sein? Sie hatten einfach Glück gehabt. War das ein Verbrechen?“

In unseren Kreisen endet, nachdem es sich elegant und fabulierfreudig durch den Problemkatalog unserer Zeit gearbeitet hat, mit einem für die Sandmanns faulen Kompromiss. Weil es so ist, wie es ist, machen wir eben mit, lautet der. Und das erleichtert klingende „Wir sind angekommen.“ am Ende des Textes – vom eingangs skeptischen Nikolai übrigens mit „einem Freudestrahlen“ im Gesicht ausgerufen – heißt nichts anderes, als dass Tatjana und Nikolai schlussendlich vor ihrem Gewissen kapituliert haben. Lothar Eversmeyer würde sagen, die Neulinge im Philosophenviertel seien eingeknickt, hätten sich korrumpieren lassen. Aber Ebersmayer, das soziale Gewissen einer Siedlung, in der alle sich nach außen ganz modern und auf der Höhe der Zeit geben, obwohl jeder letztlich nur an sich denkt, lebt zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr.

Titelbild

Georg M. Oswald: In unseren Kreisen.
Roman.
Piper Verlag, München 2023.
208 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492058834

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