Einsamkeit erlernen
Mit „Der Kräuterarzt“ liegt erstmals eine glänzende deutsche Übersetzung des Altersromans von Maurice Zermatten vor
Von Michael Fassel
In der Walliser Bergwelt blickt der in die Jahre gekommene Kräuterarzt Niclas wehmütig zurück auf sein Leben. Einsam und verlassen von seiner Tochter Marietta und einer längst vergangenen Welt bleibt er auch in Zeiten der aufstrebenden Schulmedizin seiner althergebrachten Heilkunst treu. Kräuter, Heilpflanzen, Murmeltierfett und vieles mehr sind Bestandteil seines ebenso illustren wie auch kuriosen Medizinschranks. Im Dorf als Scharlatan verrufen, zieht sich der gottesfürchtige und naturverbundene Niclas zurück und versucht das Allein- und Altsein zu erlernen. Der Verlag Edition Noack & Block kündigt Maurice Zermattens Der Kräuterarzt als „großen Altersroman“ an, in der Zermatten Abschied nimmt „von der vormodernen Zeit seiner Kindheit“. Als der Roman 1980 erstmals auf Französisch mit dem Titel L’homme aux herbes veröffentlicht wurde, war der Schweizer Schriftsteller siebzig Jahre alt.
Zermatten erzählt von einer vergangenen Zeit, als nicht-studierte, selbsternannte Kräuterärzte versuchten, mit Pflanzextrakten auch gefährliche Atemwegerkrankungen wie etwa Lungenentzündungen oder Krupp – heute bekannt als Pseudokrupp – zu heilen. Niclas wird zunehmend schmerzlich bewusst, dass seine behandelnden Maßnahmen keineswegs nur eine Erfolgsgeschichte sind. Trotzdem hält er im Gespräch mit einer greisen Patientin an seinem Credo fest: „Ich heile, weil ich Arzt bin, und ich bin Arzt, weil ich heile.“
Gleichwohl werden Zweifel in ihm laut. Immer wieder führt Niclas in seiner Einsamkeit Zwiegespräche mit sich selbst. Lediglich Hund und Ziege sind ihm geblieben, doch sogar der Hund, dem er keinen Namen gibt, wird ihm am Ende untreu. Obgleich sich Niclas das Jahr nach dem Sammeln von Kräutern einteilt und von wenigen Menschen weiterhin als Kräuterarzt konsultiert wird, ist die Moderne mit dem Ausbau von Straßen ins Bergdorf und der Etablierung der Schulmedizin nicht mehr aufzuhalten. Die Pläne zur Errichtung einer Krankenstation sieht er gar als Bedrohung an. In seiner Machtlosigkeit sieht sich Niclas als Opfer des Fortschrittes. Die Anerkennung seitens der Dorfbevölkerung verschwindet; er hat keine Aufgabe mehr, der Sinn seines Lebens verblasst:
Deine Hände sind leer: was willst du hineintun? Deine Ohren sind leer; du hörst dem Wasser zu, du wirst den Vögeln zuhören, weil niemand mehr mit dir spricht, weil niemand mehr etwas von dir will.
Beachtlich ist, wie das Thema Einsamkeit im Alter in seinen verschiedenen Facetten innerhalb dieser Verfallsgeschichte ausgeleuchtet wird. Auch wenn es sich bei Niclas um einen sehr speziell eigensinnigen Charakter handelt, so verhandelt Zermatten universale Fragen des Altwerdens und Altseins, die durchaus auch auf heutige gesellschaftliche Probleme des Alter(n)s aufmerksam machen.
Überzeugend ist Der Kräuterarzt auch in sprachlicher Hinsicht. Zermatten entwirft eindrucksvolle Bilder, die mehr sind als nur Kulisse der Walliser Alpen. Schon die ersten beide Sätze bringen dies zum Ausdruck:
Seine geheimste Stunde war seit jeher dies Vibrieren der Morgendämmerung in der Mitte des Sommers. Leise pochte der aschgraue Flügel des Wiedehopfs an die Fensterscheibe.
Zu verdanken ist diese fein komponierte Bildsprache der Schweizer Übersetzerin Hilde Fieguth, die die nuancierten Beschreibungen treffsicher ins Deutsche übertragen hat und Zermattens feinfühliger Bildgewaltigkeit gerecht wird. Es lohnt sich in vielerlei Hinsicht, den Schweizer Schriftsteller (wieder) zu entdecken.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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