Wie darf, sollte oder kann man Wolfgang Herrndorfs „tschick“ lesen?
Nur ein kleines bisschen Beatnik, aber nie popliterarischer Biedermeier in Manfred Gessats „Tolle Leute“
Von Kristin Wesemann
Literaturkennern mag es frevelhaft vorkommen, wenn Menschen in Büchern versinken, sich treiben lassen von Geschichten, Vergleiche ziehen, mitfühlen, sich ganz und gar in anderen Leben verlieren. Doch für Wolfgang Herrndorf war es ein großes Glück, mit dem Lesen auch das Leben genießen zu können, als der bösartige Hirntumor schon weit von ihm Besitz ergriffen hatte. Der unvollendete Alleskünstler war jedenfalls ganz überrascht, dass sich seine kindliche Begeisterungsfähigkeit wieder einstellte, während er das Lebens- und damit auch das Lesensende längst vor Augen hatte.
„Kindergläubig“ nennt Manfred Gessat diese Art des Umgangs mit Literatur und bringt damit viele tschick-Begeisterte womöglich erst einmal dazu tief durchzuatmen. Also noch ein Interpretationsband, noch ein Buch mehr, das es zu durchforsten gilt, wenn tschick als Pflichtlektüre in der Oberstufe ansteht? Nein, das eher nicht. Denn Gessats Tolle Leute. Eine literarische Reise durch Wolfgang Herrndorfs „tschick“ ist selbst eine Art Roadnovel durch 5000 Jahre Literaturgeschichte, beginnend mit dem Gilgamesch-Epos und weitgehend beschränkt auf den, nunja, eher deutschsprachigen Raum. Das erscheint manchmal viel zu weit hergeholt, und auch Gessat schreibt, dass gar nicht „entscheidend“ sei, „wie gut Herrndorf das Gilgamesch-Epos nachweislich gelesen hat“, weil es „Allgemeinbesitz“ sei. Der Arzt und Psychotherapeut stellt die Diagnose: „Literatur besteht nunmal weitgehend aus Literatur.“
Herrndorf, so erzählt er es uns selbst in Arbeit und Struktur, war kein Junge aus hochbildungsbürgerlichem Hause. Er hat gern gelesen und sich, als er älter wurde, von Buch zu Buch gehangelt. Wer nicht das Glück hat, von den Eltern Bücher ans Leseherz gelegt zu bekommen, kennt diese Kausalketten, die zu einer regelrechten Lesegier führen. Nie ist es genug, nie fühlt man sich literarisch ausreichend genährt. So probiert man sich durch die Deutsche Romantik oder Dostojewskis schwere Schinken (die auch Herrndorf erst in seinen frühen Zwanzigern kennengelernt hat) und findet die wahre Liebe. Bei Herrndorf waren es Huckleberry Fynn und Jane Ayre, diese herzensklugen Bücher.
Herrndorf schreibt zeitlos, er bricht runter, was unser Leben lebendig macht, ob nun Liebe, Freundschaft, Verzweiflung, Tod, Hoffnung, Gewalt oder Treue. Er hat es für uns durchlebt und dichtet es nun anderen an. Erich Kästner hat das auch geschafft, einige andere ebenso. Dabei klingt Herrndorf nie nach popliterarischem Biedermeier und hat mit den Beatniks allenfalls die Schnelligkeit gemein.
Ohne die wenigen Bezüge zu den Nullerjahren ließe sich tschick in jede Zeit katapultieren. Wahrscheinlich wäre der Titelheld Andrej Tschichatschow heute, im Jahr 2023, kein Russe mehr (und Gessat hätte besser auch Gogol nicht zum Russen gemacht). Immer aber bliebe tschick jene „Meisterleistung“, diese „Hymne auf das Jungsein, Freundschaft, Liebe und das Leben. Traumhaft, magisch, voller Poesie“. Gessat nimmt uns mit auf seine eigene Entdeckungsreise durch tschick und diese bringt fortwährend neue wahre oder vermeintliche literaturgeschichtliche Zusammenhänge mit sich. Und wenn sich Gessat für Herrndorfs Schreibkunst begeistert, dann steckt das an. Ein bisschen kann man darin sogar versinken, und mit jeder Seite steigt die Vorfreude, tschick endlich wieder „text- und kindergläubig“ zu lesen.
Sein Bändchen ist eine unterhaltsame, kurzweilige Delikatesse für Literaturinterpretierende und weckt vor allem, wieder einmal, die Trauer um Herrndorfs ungeschriebene Bücher. Aber Gessat schafft es auch, dass man sich am Ende lieber wieder Herrndorfs Texten zuwendet – in allen Ausfertigungen übrigens. Denn besonders sein tschick ist im Theater, als Hörbuch oder Paperback gleichermaßen lebenstief und grandios.
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