Ein künstliches Paradies ist vernichtet

Eine Liebeserklärung an die vor zehn Jahren abgerissene Silbermine des Phantasialands

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Das Innere der Berge, die unterirdische Welt finsterer Stollen mit ihren Gefahren und ihren in der Tiefe verborgenen Geheimnissen, übt seit jeher eine starke Faszination aus. Im Phantasialand war es möglich, einen gefahrlosen Aufenthalt unter Tage zu erleben. Denn hier stand von 1984 bis 2013 ein besonderes Fahrgeschäft, die Silbermine. In Minenzügen konnte der Besucher der Silbermine in ein mexikanisches Bergwerk einfahren, hernach ein Bergarbeiterdorf besuchen und erleben, wie gearbeitet, gefeiert und gekämpft wurde.

Schon viele Attraktionen wichen im Phantasialand Neubauten. Wegen chronischem Platzmangels wandelt sich der Park schneller als andere. Und mit nahezu jedem Abriss geht ein magischer Ort unwiederbringlich verloren. Besonders schwer wiegt der Verlust der Silbermine. Die Silbermine gehörte neben der Scala, dem Tangara-Theater und dem Märchenwald zum Ursprung des Phantasialands, von dem längst nichts mehr übrig ist. Puppenfilmer Richard Schmidt und Gottlieb Löffelhardt – die Gründer des Parks – wollten Märchenfiguren und Requisiten ein Zuhause geben, um diese einem breiten Publikum zugänglich zu machen. In einem Parkprospekt schrieb das Phantasialand noch zu Beginn der 1990er Jahre, dass die Perfektion, mit der „alles minuziös abläuft, ineinandergreift, in zigtausend Stunden erarbeitet wurde, es wurde erprobt, verworfen, wieder probiert, bis schließlich aus einer Idee Wirklichkeit wurde“. Stolz war der Park auf die „Elektronik-Shows“ der Puppen, auch in der Silbermine: „Ungeahnte technische Effekte zaubern ein Feuerwerk der Phantasie“. Die Silbermine wurde damals in der Werbung als aufwendigste Fahrattraktion, „die je in Europa gebaut wurde“, bezeichnet.

In den letzten Monaten ihres Bestehens war die Silbermine eine bezaubernde alte Ruine. Sie befand sich bereits auf dem Weg herab in die Schäbigkeit. Der Besucher kam zur Einstiegsplattform, an welcher der Zug mit gleichmäßigem Getöse gemächlich entlangrumpelte, und spürte, dass er eine dem Untergang geweihte Welt betreten hatte. Beschädigungen an den Figuren, welche schon auf den ersten Metern der Fahrt zu sehen waren, wurden höchstens notdürftig geflickt. Die künstlichen Felsbrocken im einstürzenden Minenschacht, durch welchen der Zug geführt wurde, bewegten sich längst nicht mehr. Doch gerade in diesem Zustand entfaltete die dunkle Mine mit ihren glitzernden Silberflözen einen besonderen, morbiden Zauber.

Es kam eine Art Betäubung über den Besucher, in der er sich ganz dem langsamen Rhythmus des ratternden Zuges überließ. Nahm man den allmählich aufkommenden Traumzustand an, kehrte man auf diese Weise zu einem Leben im Urzustand zurück. Es galt ein künstliches Paradies zu entdecken, sich mit allen Sinnen der Scheinwelt hinzugeben und geradezu rauschhaft die vorbeiziehende, symbolträchtige Szenerie aufzunehmen. Denn nach dem Verlassen des ersten Minenschachts erblickte der Besucher zuerst eine Bergkönigin, eine lasziv tanzende Mexikanerin. Ganz wie der junge Seemann Elis Fröbo in E.T.A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun wohnte der fahrende Besucher einer traditionellen Feier der Bergleute bei. Der Blick der auf dem Tisch tanzenden Schönheit war stetig, unergründlich und in die Ferne gerichtet. Sie zog mit ihrem Kleid Blicke auf sich, erwiderte sie aber nicht. Von der Sinnlichkeit verbreitenden Tänzerin glitt der Besucher hinüber zu einer Kirche, deren Glocke ein Pastor läutete. Die Pendelbewegung der Glocke riss am Seil und hob den Pastor in die Luft. Hinter der nächsten Kurve stand das Arbeiterdorf in Flammen, Räuber zogen durch die Gasse. So bewegte sich der Zug vom sinnlichen Himmel der feiernden Menschen und des von Lichtern erleuchteten Dorfes hinein in die brennende Hölle. Den Besucher überkam ein Schauer, wenn er die verräumlichte Darstellung von Sünde sowie die Fahrtrichtung erkannte, während sich der Zug nach vorn neigte und ein Stockwerk tiefer fuhr. Die sühnende Seele wandte sich hinab Richtung Erdinnerem, schien es. Es flackerten Kerzen, blau leuchtete im Hintergrund eine Blume und verstrahlte Hoffnung. Oder war diese Blume nur ein Teil des Sinnesrausches und gar nicht real? Die Geräuschkulisse wurde lauter, immer neue Figuren wandten ihre Köpfe. Der Besucher fuhr, sich an die Suche Joseph von Eichendorffs erinnernd, durch die Mine: „Ob nirgends in der Runde/ Die blaue Blume zu schaun.“ Die blaue Blume, jenes Symbol für das Streben nach der Erkenntnis der Natur und des Selbst sowie für die Sehnsucht nach der Ferne, war unauffällig platziert zwischen all den Puppen – in einer Nische.

Der Zug bog in die letzte Szenerie ein. Eine mehrstöckige Kulisse. Spanier versuchten während des Mexikanischen Unabhängigkeitskriegs (1810 bis 1821), eine Festung zu halten. Rebellen stürmten gegen die Mauer an, erklommen sie bereits, schrien „Viva Mexico!“ und schwangen Dynamitstangen. Es war düster und kühl, die weiß gekalkte Mauer des Forts schien in fahles Mondlicht getaucht. Der Tod wurde nicht verborgen. Auf der Festungsmauer wurden Säbel geschwungen, Kanonen donnerten, glommen auf und erloschen wieder. Was ist das Leben anderes als eine Flamme, die aus der Oberfläche der Dunkelheit hervorbricht und wieder in die Dunkelheit versickert. „Aber der Tod, der endet, ist anders als der Tod, der die Quelle war“, behauptete D. H. Lawrence in Auf verbotenen Wegen. Wenn dies so ist, bereichert die Silbermine die Schatten. Sie hat keinerlei äußerlich sichtbare Spuren hinterlassen. Eine wilde Achterbahn wurde auf ihrem Grundstück errichtet. Wenn die Flamme auch erloschen ist, so ist das Wesen des Feuers laut Lawrence doch in der Dunkelheit. Der Schatten bleibt, jene „sonderbare Verblendung der Menschen, die doch recht gut wissen, was alles sich in ihnen selbst verändert“, schrieb Albert Camus in Der glückliche Tod. Es ist der Abdruck, welchen die Puppenwelt und das gänzlich romantische Reifen durch die Suche nach der blauen Blume im Inneren hinterließen.

Das Bergwerk steht als literarisches Symbol für ein künstliches Paradies mit sowohl ästhetizistischen als auch dämonischen Ausprägungen. Die Erinnerung an die Silbermine ist eine Verbindung zu einer Vergangenheit, welche viele Besucher bis heute mit einem warmen Gefühl im Herzen tragen; in Foren wird sich über die Veränderungen des Phantasialands ausgetauscht. Doch ist dies keine reine Sentimentalität. Vielmehr ist es gerade eine Märchenwelt, die mehr denn je gebraucht wird, um den Belastungen der Realität für einige Zeit zu entfliehen. Kinder legten in der Silbermine die Angst vor der Grube ab, absolvierten gerne mehrere erfolgreiche Minenfahrten. Kinder wie Erwachsene staunten überwältigt von dem Wunder aus Bewegung in der künstlichen Nacht – auch in beschädigtem Zustand. Die Tänzerin hatte beispielsweise bis zum Schluss die Illusion mit wunderbarer Anmut gewahrt. Der poetische Reiz anderer Figuren war kurz vor dem Abriss bereits gewichen. Mit wachsender zeitlicher Distanz wächst die Unsicherheit, welche Bedeutung romantische Traumwelten haben. Für die heutigen Besucher des Phantasialands bleibt diese Wunderwelt jedenfalls verschlossen und unerreichbar wie ein unbewohnter Planet. Was sie heute im Park erleben, stellt die Ausschüttung von Adrenalin in den Vordergrund. Der Zauber schwindet.