Am Tiefpunkt
Mit „Einer von den Guten“ setzt Jan Costin Wagner seine Romanreihe um den Wiesbadener Ermittler Ben Neven fort
Von Dietmar Jacobsen
„Dass so jemand in deinem Haus lebt. Einige von denen sind verheiratet, oder?“ Dem Wiesbadener Kriminalpolizisten Ben Neven gehen diese Worte seiner Frau nicht mehr aus dem Kopf. Als Angehöriger einer Abteilung, die seit Jahren dabei ist, ein riesiges Pädophilennetzwerk auszuheben, in dem über das Darknet Bilder und Videos ausgetauscht sowie minderjährige Jungen und Mädchen wie x-beliebige Waren feilgeboten werden, hütet er selbst seiner Familie sowie seinem Team und außenstehenden Freunden gegenüber ein dunkles Geheimnis.
Denn nachdem er lange versucht hat, die eigenen pädophilen Neigungen unter Kontrolle zu halten, trifft er sich seit geraumer Zeit mit dem 13-jährigen Rumänen Adrian. 200 Kilometer, von Wiesbaden nach Dortmund, fährt er zu diesem Zweck einmal in der Woche. Der Parkplatz vor einem Freibad am Stadtrand ist der Treffpunkt. Hier steigt der minderjährige Junge in sein Auto und schweigend erledigt man in einem nahen Waldstück das, was für den einen die Abwicklung eines „Geschäfts“ mit einem von mehreren „Kunden“ ist, für den anderen aber Erleichterung und Scham gleichzeitig mit sich bringt – Gefühle, über die Ben Neven mit niemandem sprechen kann, auch nicht mit dem Mann, der ihn am meisten bei der Polizei gefördert hat, seinem ehemaligen Vorgesetzten Ludwig Landmann.
Jan Costin Wagner (Jahrgang 1972) stellt mit Einer von den Guten Ben Neven bereits zum dritten Mal in den Mittelpunkt eines seiner Romane. Nach Sommer bei Nacht (2020) und Am roten Strand (2022), in denen man miterleben konnte, wie der Angehörige der Abteilung für Delikte am Menschen beim Wiesbadener LKA zum Helden aufstieg, indem er ein Kind davor bewahrte, von seinem Peiniger getötet zu werden, während er gleichzeitig im Kampf gegen die eigenen Dämonen auf immer verlorenerem Posten stand, scheint nun freilich der Augenblick gekommen, wo an eine Rückkehr Bens unter jene, die im Titel des neuen Romans als „die Guten“ bezeichnet werden, nicht mehr zu denken ist.
Zu tief hat er sich verstrickt. Und zu sehr fühlt er sich zu Adrian hingezogen, als dass er dem Sog, der von jenem Dortmunder Freibad ausgeht, auf dessen Parkplatz er den Jungen regelmäßig trifft, noch widerstehen könnte. Und so führt eines zum anderen: Lügen, Heuchelei und Versteckspiel zu einem Suizidversuch aus Verzweiflung, der wiederum zu einem halbherzigen Geständnis gegenüber einem Vertrauten, der alles tut, um Ben zu helfen, um letzten Endes doch bitter von ihm enttäuscht zu werden. Als er sich schließlich gar noch der unterlassenen Hilfeleistung schuldig macht, ein Mensch sterben muss, nur damit Bens Geheimnis weiterhin gewahrt bleibt, hat er einen Punkt in seinem Leben erreicht, von dem es kein Zurück mehr gibt.
Einer von den Guten ist für die Leserinnen und Leser dieses knapp 200-seitigen Romans alles andere als leichte Kost. „Ich habe die kontroverseste literarische Figur gesucht, die ich mir vorstellen kann“, hat Jan Costin Wagner bezüglich seiner Hauptgestalt in einem Interview geäußert. Und die verspielt in diesem dritten Roman, in dem sie als Polizist Menschen jagt, von denen sie sich selbst nur graduell unterscheidet, nicht nur die Chance, die ihr ein enger Vertrauter und Freund einräumt, indem er über die pädophilen Neigungen des Polizisten Stillschweigen bewahrt und ihn mit einem erfahrenen Therapeuten zusammenbringt, sondern auch das letzte bisschen Hoffnung, das man als Leserin oder Leser der beiden Vorgängerbände noch haben durfte.
Nun ist dieser Ben Neven niemand, der mordet, seine Neigungen gewalttätig auslebt oder sich im Rahmen von Netzwerken an der Ausbeutung von Minderjährigen beteiligt. Er selbst glaubt sogar, dass seine Beziehung zu dem rumänischen Jungen auf Gegenseitigkeit beruht. „Alles soll im Einvernehmen passieren, im Einklang. Danach sind wir Freunde“, denkt er, wenn er den Jungen trifft. Dass der die Augen schließt, wenn es geschieht, und einem Ritual folgt, „das darin besteht, die Welt wie einen Ort zu betrachten, den es nicht gibt, und sich selbst wie eine Person, die eigentlich nur Stoff ist. Materie“, bekommt Ben in seiner Verblendung freilich nicht mit.
Jan Costin Wagner hat seinen Roman in sechs Teile und einen Epilog unterteilt. Innerhalb dieses übergeordneten Systems sorgt eine Binnengliederung noch einmal für häufige Perspektivwechsel und damit auch für ein hohes Erzähltempo. 36 nummerierte sowie – im Epilog – drei unnummerierte Kleinstkapitel sind aus den Perspektiven von Ben und Adrian, Ben Nevens Kollegen Christian Sandner, seiner Kollegin Maren Kramer, Ludwig Landmann, seinem Ex-Vorgesetzten und väterlichem Freund, sowie Adrians 14-jähriger Freundin Vera erzählt.
Vor allem Letzterer kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Denn während es Ben Neven nicht mehr gelingt, sich aus der verhängnisvollen Abhängigkeit von dem Jungen zu lösen und sein Leben sich immer mehr auf eine Katastrophe zubewegt, findet Adrian in Vera Fellner einen Menschen, der ein ganz anderes Leben lebt, als er selbst. Der Gleichaltrigen, die er in ebenjenem Dortmunder Schwimmbad kennengelernt hat, anzuvertrauen, was er nicht nur mit Ben Neven tut und dass es sein eigener Vater und dessen Freunde sind, die ihn zur Prostitution zwingen, wagt er vorerst allerdings nicht. Denn er will nicht, dass ihn das Mädchen, von dem er sich von Beginn an verstanden gefühlt hat, gleich wieder verlässt.
Aber Vera ist resolut - wenn auch gelegentlich ein bisschen zu „erwachsen“ für eine Vierzehnjährige – und findet sich nicht damit ab, dass es Bereiche in Adrians Leben gibt, zu denen er ihr den Zutritt verweigert, lieber schweigt und sich sperrt, ehe er ihr Einblicke in sein Seelenleben gibt. Dass das nicht ewig so gehen kann, ist ihm bewusst. Will er das behalten, was er bei ihr und in ihrer Familie gefunden hat, wird er sich öffnen müssen. Für den Jungen mit Sicherheit eine Erleichterung. Und das gleichzeitige Ende für Ben Neven. Aber noch ist es nicht so weit. Noch darf Ben in sich einen von den Guten sehen. Ein weiterer Roman wird wohl das Ende seines Doppellebens erzählen müssen.
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