Stimmen aus der Tiefsee
In seinem ambitionierten Debütroman „Weil da war etwas im Wasser“ geht Luca Kieser ein erzählerisches Wagnis ein, das fasziniert, an manchen Stellen aber auch etwas überfrachtet wirkt
Von Bernhard Judex
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin weiblicher Riesenkalmar, ein „Wesen, das immerzu in Finsternis lebt“, ist der (un)heimliche Protagonist von Luca Kiesers erstem Roman Weil da war etwas im Wasser. Unheimlich, weil man tatsächlich lange Zeit kaum etwas vom Leben dieser riesigen Meeresbewohner gewusst hatte und sie damit immer schon Projektionsflächen für Legenden, sagenhafte Geschichten und Angstphantasien waren – was auch einen zentralen Hintergrund von Kiesers Buch bildet und ausführlich zur Sprache kommt. Heimlich insofern, da die eigentliche Erzählperspektive genau genommen von den acht Armen und zwei Tentakeln des Tieres und nicht von ihm selbst ausgeht. Auf äußerst ungewöhnliche, anfangs aber auch irritierende Weise berichten sie ihre jeweils eigene Geschichte und sprechen dabei von „unserem Kalmar“. Eine ungeheure Fülle unterschiedlicher Handlungsstränge wird so entfaltet. Zuweilen fallen sich die Arme des Tintenfisches sogar selbst ins Wort und verweisen auf andere Passagen in dem Roman. Kieser arbeitet hier freilich ganz bewusst und zugleich originell. Dennoch verwirrt die polymorphe, multiperspektivische Erzählweise, die auf verschlungenen Wegen in so manche Abgründe führt, bei der Lektüre zeitweilig, zumal manche Geschichten, so unerwartet sie auftauchen, unvermittelt abbrechen und sich verlieren.
Dass die einzelnen Arme des sogenannten Architeuthis dux Millionen von Nervenzellen besitzen und gewissermaßen eigene Gehirne bilden, lässt die erzählerische Perspektive zugleich als begründet erscheinen. Tatsächlich verfügt der Riesenkalmar mit seinen unzähligen Sinnes- und Tastorganen über eine sehr komplexe Wahrnehmung. Schließlich geht es Kieser auch gar nicht um ein monokausales Erzählen, um die Vermittlung von Eindeutigkeit, sondern vielmehr gerade um die Lust, in einen Kosmos unterschiedlicher Perspektiven und sprachlicher Ebenen einzutauchen. „Aber Unsicherheit ist ja schön, alles andere ist bloß Wahrheit“, heißt es an einer Stelle bezeichnenderweise. Faktisches und Fiktion liegen eng beieinander, reales Hintergrundwissen vermischt sich mit den persönlichen Schicksalen der Figuren, aus einem Tagebuch wird ebenso zitiert, wie berühmte literarische Vorlagen, Abenteuergeschichten und filmische Stoffe die Seiten füllen.
So begegnen wir neben den beiden Tentakeln dem Süßen Arm, dem Eingebildeten, dem Müden, dem Halben, dem Bisschen Schüchternen, dem Blendenden, dem Hehren und dem Armen Arm, wie sie der Autor alle nennt, wobei am Schluss sogar noch ein Neuer Arm entsteht. Auslöser für diese Vielfalt an Stimmen ist der – im Buch selbst allerdings nur andeutungsweise erwähnte – Moment, als das Meerestier ein Tiefseekabel berührt. Gleichsam als würden damit unter Wasser geführte Gespräche und Nachrichten übertragen oder ein verborgenes Wissen über die Kontinente und Generationen hinaus angezapft, strecken sich die Arme des Kalmars in die unterschiedlichsten Richtungen eines höchst anspielungsreichen und abenteuerlichen, erzählerischen Panoptikums, dessen einzelne Handlungsebenen freilich letztendlich zusammenhängen und sich in dem von vielen Geschichten, Mythen und Ereignissen umwobenen Lebewesen bündeln.
Zunächst ist da etwa die junge Studentin Sanja, die als Praktikantin auf dem Frosttrawler Greta-Dora einer deutschen Fischerei anheuert. Ihr Tagebuch, das am Ende des Buches vollständig wiedergegeben wird, berichtet zunächst von kaum nennenswerten Erlebnissen auf der Reise in die antarktischen Gewässer, wo das Schiff Krill aus der Tiefsee fangen soll. Zumindest erachtet die Tagebuchschreiberin selbst ihre Aufzeichnungen für wenig berichtenswert – bis zu dem Moment, wo die Fangnetze des Schleppers einen großen Kalmar an Bord befördern, um den sich die Studentin kümmert, was ihr schlussendlich allerdings auch zum Verhängnis wird. Sanja ist die letzte Protagonistin der Familie Sanz, deren abwechslungsreiche Lebensgeschichte Kieser – respektive die erzählenden Arme des Kalmars – nach und nach entfaltet. An ihrem Anfang steht der Seemann Hernán Sanz Sanchez, der 1861 an Bord der französischen Fregatte Alecton als einer der ersten Menschen eines Riesenkalmars in seiner ganzen Körperlänge ansichtig und davon traumatisiert wird.
Ebenso wie mit der Thematisierung der ökologischen Problematik des Krillfangs eröffnet sich damit der realgeschichtliche Hintergrund von Kiesers Roman, der eine gigantische Fülle anspielungsreicher Motive entwickelt. Nicht nur die weitverzweigte und verstrickte Familiengeschichte der Sanz, die Sanja als Verwandte sowohl jenes Fischereifabrikbesitzers ausweist, in dessen Auftrag die Greta-Dora unterwegs ist, als auch der schwer einzuordnenden Expeditionsteilnehmerin Dagmar, macht den Großteil des Buches aus. Eine ebenso zentrale Rolle nehmen jene indirekten Zitate und Sequenzen ein, in denen mit Jules Verne über Herman Melville bis hin zu Peter Benchley und Arthur C. Clarke eine Vielzahl berühmter Prätexte zur Sprache kommt, die sich immer wieder mit ‚Meeresungeheuern‘ und unheimlichen Ozeanbewohnern sowie den Phantasien über sie auseinandergesetzt haben. Nicht zuletzt Robert Mattey, der in den Disney-Studios immer ausgefeiltere Spezialeffekte und Attrappen für die auf literarischen Vorbildern basierenden Kinoerfolge von 20.000 Meilen unter dem Meer und insbesondere Der weiße Hai schuf, ist eine ausführlichere Sequenz gewidmet.
In der „Geschichte unseres Halben Arms“ mit dem Titel „Blue Marble“ lässt sich schließlich so etwas wie ein Programm von Kiesers faszinierendem Buch ausmachen: „Ich, der Hehre Arm eines Tintenfisches spreche zu euch, den Menschen, um euch daran zu erinnern, dass wir die Natur brauchen, um zu fühlen. Wir alle, auch ihr.“ So liest sich der auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023 platzierte Roman nicht zuletzt als Manifest für einen bewussteren Umgang mit den Grundlagen unserer Existenz. Dass alles mit allem zusammenhängt, die Schicksale der einzelnen Figuren und Handlungsträger dieses Textes auf eine kaum zu überblickende Weise miteinander verwoben sind, ist die grundlegende Botschaft von Weil da war etwas im Wasser. Als Vertreter einer bedrohten, vom Menschen verfolgten Spezies verkörpert der unheimliche Kalmar so etwas wie ein überzeitliches, naturgeschichtliches und sinnliches Gedächtnis, das weit über dem steht, was wir rational zu erfassen imstande sind, bildet einen Spiegel für die Unzulänglichkeit, die uns gegen das Unfassbare zu Felde ziehen lässt, um es zu unterwerfen.
In der „Geschichte unseres Bisschen-Schüchternen Arms“, die einen jungen Autor zum Thema hat – eine Art poetologische Selbstreflexion –, heißt es an einer signifikanten Stelle:
Unser junger Autor fragte sich, ob es überhaupt möglich war, aus der Perspektive eines solchen Tiers zu schreiben, ob es überhaupt ging, aus der Perspektive irgendeines Tiers zu schreiben. Er befürchtete, es zu vermenschlichen. Genauso aber befürchtete er, es fremder zu machen, als es war, wenn er die Gemeinsamkeiten mit dem Menschen leugnete.
Kieser hat sich gemeinsam mit der Schriftstellerin Jana Volkmann intensiv mit der Tierwelt und insbesondere den unerforschten Meeresbewohnern auseinandergesetzt, was seinem Roman deutlich anzumerken ist. Zudem beschäftigte sich der 1992 in Tübingen geborene und mittlerweile in Wien lebende Autor mit Tier- und Naturethik. „Nature Writing“ lässt sich in diesem Kontext als Frage nach unserem Sprechen über Natur, nach unserer Wahrnehmung und dem Umgang mit dem Organischen verstehen, als Forderung nach der Sensibilisierung für einen herrschaftsfreien Diskurs, der unsere eigene Verletzbarkeit offenlegt.
Kiesers Text schließt unmittelbar an die zuletzt erschienenen Bücher von Michael Stavarič und Michèle Ganser (Faszination Krake, 2021), Marie Gamillscheg (Aufruhr der Meerestiere, 2022) oder auch François Bill (Die Eloquenz der Sardine, 2021) an. Sie alle thematisieren den in seinen Tiefen vielfach noch unerforschten Ozean, spielen mit der Faszination des Unheimlichen als Projektionsfläche für das Unbewusste und unsere geheimen Phantasien wie auch Ängste. Haie, Wale und Oktopusse stehen dabei für Metaphern des Todes, aber auch für die lustvolle Gefahr, der man nicht zuletzt im Meer selbst, auf einem Schiff, ausgesetzt ist.
Folgt man der klugen Rezension des Romans von David Wimmer für das Buchmagazin des Literaturhauses Wien, so lässt sich mit dem Hinweis auf die emeritierte US-Professorin Donna Haraway ein spannender Zugang zu Lucas Kiesers Debüt erschließen. In ihrer Schrift Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chtuluzän (2018) postuliert die Naturwissenschaftlerin und Philosophin Haraway das Ende des Anthropozäns, das sie durch ein Zeitalter abgelöst sieht, in dem der Mensch die Verwandtschaft mit anderen Arten eingeht und sich des Zusammenhangs von Natur, bedrohten Tierarten und Ökosystemen bewusst wird. In einem Denken als offenes Fadenspiel wird die Grundlage für einen bewusstseinserweiternden Horizont geschaffen. Das sogenannte „Tentakuläre“ verweist auf einen interdisziplinären Raum, in dem sich die Grenzen der Wissenschaften öffnen, sodass die Erzählungen und Vorstellungen über unser Dasein, über unsere Welt veränderbar und polyvalent werden.
Postmodernes Erzählen hat also noch keineswegs ausgedient. Anspielungsreichtum, Zitate aus literarischen und kulturgeschichtlichen Vorlagen, der Verzicht auf eine lineare Erzählhandlung zugunsten von Mehrstimmigkeit, die sich keinem klaren Konzept unterwirft, sondern vielmehr spielerisch sich selbst überlässt, sind wesentliche Elemente von Kiesers Roman. Das im Picus Verlag erschienene Buch, das grafisch äußerst ansprechend gestaltet ist und die Leserinnen und Leser in einen vielschichtigen Kosmos entführt, wird zu einem spannenden und auch informativen Leseabenteuer, sodass man ihm seine manchmal zu sehr gewollten und konstruierten Passagen sowie das überbordende Ausmaß an Handlungssträngen, in dem sich der Kalmar wie auch der Autor zu verlieren drohen, letztendlich nachsieht.
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