Im Zeichen von Erinnerung und Identitätssuche
Die Schuld des Überlebenden: Die eindrucksvollen Erinnerungen des Künstlers und Shoah-Überlebenden Boris Lurie „In Riga“ sind erstmals auf Deutsch erschienen
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWarum darf der eine überleben, während so viele andere sterben müssen? Die Absurdität des Zufalls gehörte von Anfang an zu den zentralen Motiven der Holocaust-Literatur. Dass der glückliche Ausgang für einen selbst untrennbar verbunden war mit dem Tod anderer, wurde zu einem Ursprung der sogenannten „Überlebensschuld“. So auch in den erst posthum veröffentlichten Erinnerungen von Boris Lurie.
2008 starb der Künstler im Alter von 83 Jahren in seiner Wahlheimat New York; als Jugendlicher überlebte er erst die Zeit im Rigaer Ghetto, dann als Zwangsarbeiter in verschiedenen Konzentrationslagern. Und das auch noch gemeinsam mit seinem Vater, ein in der Geschichte der Shoah wohl einzigartiger Fall, wie der Sohn später vermutete. Es überrascht daher nicht, dass Lurie in seinen Erinnerungen immer wieder zu jenen Momenten zurückkehrt, als sein Tod praktisch schon feststand.
Wie bei einer „Selektion“ im Arbeitslager, die ihn von seinem Vater hätte trennen sollen:
Die SS und die Polizei aus Lenta beobachten die Selektion sehr aufmerksam. Mir schwirrt der Kopf, ich folge keiner Vernunft mehr. Mein Vater winkt mir aus der Ferne, mit zornigem Gesichtsausdruck. Er befiehlt mir, an seine Seite zu kommen. Ich beginne, mit normaler Geschwindigkeit über den Appellplatz zu gehen, wie ein Schlafwandler, jeden Augenblick rechne ich damit, angehalten zu werden, angerufen, auf den Kopf geschlagen, zur Bestrafung weggezerrt, vielleicht gleich ermordet. Niemand hält mich an, niemand ruft, und bald stehe ich neben meinem Vater, auf der guten Seite. Es wird nicht noch einmal abgezählt, und keiner der Gefangenen, die mich den Platz haben queren sehen, sagt ein Wort.
Zu diesem Zeitpunkt war der Rest seiner Familie bereits tot. Die Nazis hatten sie im Dezember 1941 im nahen Wald von Rumbula erschossen, zusammen mit über 25.000 lettischen und über 1.000 Berliner Jüdinnen und Juden. Es war Luries Mutter gewesen, die kurz zuvor entschieden hatte, dass Vater und Sohn nicht der von den Nazis angekündigten „Evakuierung“ folgen, sondern im Arbeitslager bleiben sollten. Mehr als drei Jahrzehnte später reiste Boris Lurie als 51-Jähriger ins damals sowjetische Lettland, um erstmals seit seiner Befreiung zu den Stätten seines Martyriums zurückzukehren – aber auch um endlich jenen Ort zu sehen, an dem seine Mutter, Schwester, Großmutter und Geliebte ermordet worden waren.
In Riga, wie Luries mosaikartige Aufzeichnungen betitelt sind, erzählt daher im ständigen Wechsel zwei Geschichten: zum einen die Kindheit und Jugend des Künstlers unter sich ändernden politischen Vorzeichen. Schon vor den Nazis, als Lettland zur Sowjetunion gehörte, lebte die Familie in ständiger Angst, der Vater, ein Geschäftsmann, könnte nach Sibirien deportiert werden. Zum anderen notiert Boris Lurie die Geschichte seiner Reise im Jahr 1975 im Zeichen von Erinnerung und Identitätssuche.
Die gestaltet sich zunächst schwierig. Wo einst ein jüdischer Friedhof war, ist jetzt ein friedlicher Park; im einstigen Ghetto wohnen inzwischen russische Arbeiterfamilien. Nur wenig erinnert im sowjetischen Riga noch an den Holocaust; dass auf einem Mahnmal nur allgemein von den „Opfern des Faschismus“ die Rede ist, versetzt den Überlebenden in hilflosen Zorn. Umso mehr beginnen die Bilder der Erinnerung die Wahrnehmung zu überlagern: In Luries Aufzeichnungen wechseln die Zeitebenen, anfangs noch säuberlich durch Leerzeilen oder Sternchen getrennt, bald schon innerhalb eines Absatzes.
Völlig außer sich gerät der „Tourist“, als er vor den Massengräbern in Rumbula steht. Ein „verrückter Hang zur technischen Analyse“ überkommt ihn, wie Lurie notiert, er beginnt die Gräber zu vermessen, macht Fotos, grübelt über den genauen Ablauf. Die Massenerschießung wurde zur Keimzelle von Luries bildender Kunst: Im New York der Sechziger und Siebziger provozierte er mit seinen Collagen, etwa mit einer lasziven Schönheit vor dem Hintergrund von Leichenbergen. In seinen Aufzeichnungen spricht Lurie, weil die Opfer sich zuvor entkleiden mussten, sarkastisch vom „größten Striptease aller Zeiten“ oder kürt seine ermordete Schwester zur „Miss Rumbula“. „Kann ein Überlebender immer noch ein wahrer Freund von jemandem in den Gruben sein? Oder muß die Schuld des Überlebens oder einfach die Zufälligkeit, ohne Überlebensschuld, automatisch diese Freundschaft beenden?“
Man muss dem Wallstein Verlag dankbar dafür sein, dass nach Luries verstörendem Roman Haus von Anita nun auch sein ebenso großes wie schonungsloses Erinnerungsbuch In Riga auf Deutsch zu lesen ist. Merkwürdig nur, dass der Name der Herausgeberin – es ist die deutsch-russische Künstlerin Julia Kissina – einzig in der Vorbemerkung des Übersetzers erwähnt wird. So ist leider auch ihr instruktives Vorwort nur im amerikanischen Original zu finden.
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