Rorschachtest im Meer

Ein bizarrer Felsbrocken im Meer und vier Geschichten, die vom zeitlosen Wahnsinn des Menschseins handeln: Mit „Der weiße Fels“ legt Anna Hope ihren vierten Roman vor

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Unsere Mutter Ozean“: So nennen die Nachkommen mexikanischer Ureinwohner einen Fels, der vor der Küste von San Blas, einem Fischerdorf am Pazifik, aus dem Meer ragt. Es ist bis heute ein Ort für Opfergaben und Dankgebete. Denn in der Mythologie der Wixárika ist Piedra blanca, der weiße Fels, jener Ort, wo einst das Leben begann. Der Fels ist nämlich das erste feste Gebilde, das sich einst aus dem Meer erhob; mit ihm nahm die Welt somit ihren Anfang: „An diesem Ort verliebte sich die Formlosigkeit zum ersten Mal in die Form. Und so, genau so wurde die Welt geboren, an jenem Ort und zu jener Zeit.“

Diese mystisch klingenden Sätze finden sich genau in der Mitte des neuen Romans von Anna Hope. Der weiße Fels erzählt von einem Ort, dem eine spirituelle Bedeutung innewohnt – und auch eine strategische. Die Sätze stehen in einem kurzen Kapitel, das aus Sicht des Felses selbst erzählt wird. Wer bei der Lektüre bis hierhergekommen ist, erlebt an dieser Stelle so etwas wie die Umkehrung des Zeitpfeiles. Denn bis dahin hat sich die englische Autorin, 1974 in Manchester geboren, in ihrem Roman Kapitel für Kapitel immer weiter in die Vergangenheit dieses Ortes zurückgearbeitet.

Dabei verknüpft Anna Hope vier Geschichten, die teils Jahrzehnte, teils Jahrhunderte voneinander getrennt sind. Eine eindrucksvolle Zeitreise, die rund 250 Jahre umspannt; mit der scharfkantigen Formation im Meer als eine Art erzählerischer Anker im Raum. Hopes Roman handelt vom Schrecken des Kolonialismus ebenso wie vom zeitlosen Wahnsinn des Menschseins. Durchaus bezeichnend ist dabei, wie sehr der Fels für Hopes Figuren zur Projektionsfläche ihrer jeweiligen Wünsche und Befürchtungen wird. Denn wie bei einem Rorschachtest glaubt jede und jeder etwas anderes in ihm zu erkennen: ein Gesicht mit tiefen Augenhöhlen, ein leidendes Monster oder gar Jesus Christus:

Er richtet sein Fernrohr auf den Felsen, eine eigenartige, weiße Klippe, neben der sie seit drei Tagen vor Anker liegen. Aus den meisten Richtungen bietet sie ein unscheinbares Bild, aber nun, da er den Blick gen Nordnordwest richtet, erinnert sie auf unheimliche Weise an das Antlitz des Herrn – weiße Robe, wie zur Einkehr niedergeschlagene Augen und in spanischer Manier gestutzter Bart, dessen Spitze sich dunkel im Wasser verjüngt.

Besagter „er“ ist ein wackerer spanischer Kapitänleutnant des 18. Jahrhunderts, für den es ein reales Vorbild gibt. Im Auftrag des Königs soll er von San Blas aus die amerikanische Westküste erkunden und damit natürlich vor allem in Besitz nehmen; sein Glaube an Vernunft und Wissenschaft wird an diesem Ort jedoch grundlegend in Frage gestellt.

Eine andere Geschichte erzählt vom traurigen Schicksal zweier Mädchen aus dem Stamm der Yoemem, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie der Rest ihres Volkes zur Zwangsarbeit von ihrer Heimat in Arizona in den Süden verschleppt wurden. Hopes dritte Geschichte erinnert daran, wie sich im Jahr 1969 einst Jim Morrison, der drogenabhängige Leadsänger der Doors, vor Bandkollegen und Behörden nach San Blas flüchtete. Und Anfang 2020 schließlich, als die Welt gerade dem Lockdown entgegengeht, reist eine namenlose „Schriftstellerin“ zusammen mit ihrem Noch-Ehemann und ihrer dreijährigen Tochter zum weißen Fels: um Dank zu sagen für das Geschenk einer späten Mutterschaft. Doch steht ihr das überhaupt zu?

Das Ritual – das Gebet – fiel ihr nicht leicht. O nein. Wie um alles in der Welt sollte sie beten? Und an wen sollte sie sich nach zweitausend Jahren Christentum und Patriarchat überhaupt wenden? Wer hörte ihr zu? Gott? Das Feuer? Der blaue Hirsch, der den Wixárika heilig, ihrer eigenen Kultur aber fremd war? Woher nahm sie angesichts von Kolonialismus, Gewalt und Vertreibung das Recht, neben einem indigenen Schamanen am Lagerfeuer zu sitzen und um etwas zu bitten?

Diese vierte Geschichte soll laut Autorin zumindest partiell autobiografisch sein. Vielleicht liegt es daran, dass sie der gelungenste Romanteil ist. So wirken zum Beispiel die Yoemem-Schwestern – vielleicht aus Angst vor dem Vorwurf kultureller Aneignung – etwas zu blass, und Hopes paranoider Rocksänger trägt mitunter Züge einer Karikatur. Ihre namenlose „Schriftstellerin“ hingegen repräsentiert großartig unsere Gegenwart in all ihrer Zerrissenheit: eine Generation, die angesichts der drohenden Klimaapokalypse und der Folgen vergangener Sünden, schwelender Beziehungskrisen und unerfüllter Wünsche einfach nur ratlos ist. Und die also allen Grund hat, am Meeresstrand vor dem weißen Felsen ein paar Opfergaben an uralte Götter auf gut Glück lossegeln zu lassen.

Titelbild

Anna Hope: Der weiße Fels. Roman.
Aus dem Englischen von Eva Bonné.
Carl Hanser Verlag, München 2023.
336 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783446276260

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch