Die Rückkehr zur Vertikalen
Mit „Der Magier im Kreml“ ist dem italo-schweizerischen Autor Giuliano da Empoli ein ebenso faszinierender wie hochaktueller Blick hinter die Kulissen des heutigen Russlands gelungen
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAn allem schuld ist der Oligarch Boris Beresowski. Der unter bis heute nicht geklärten Umständen 2013 im englischen Exil ums Leben gekommene neureiche Russe hatte als Erster die Idee, auf den abgewirtschafteten Präsidenten Boris Jelzin einen eher unscheinbaren Mann folgen zu lassen. In KGB-Chef Wladimir Putin, einer Figur, die eher einem „Abteilungsleiter […] des Postministeriums“ ähnelte als einem mit allen Wassern gewaschenen Weltenlenker, sah er einen aus dem Hintergrund leicht lenkbaren Mann. Was sollte der sich in den verwinkelten Kellern der Moskauer Geheimdienstzentrale wohler als in der Öffentlichkeit fühlende Putin schon jenen Kräften entgegenzusetzen haben, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das Ruder an sich gerissen hatten? Politiker betrachtete man in diesen Kreisen lediglich als Marionetten, die man in jede gerade opportune Richtung lenken konnte.
Aber Beresowski irrte sich. Und nicht nur er bezahlte nach Putins Verwandlung aus einer willfährigen Spielfigur, die man glaubte geschaffen zu haben, um sie zu jeder beliebigen Zeit wieder loszuwerden, in den skrupellosen Gestalter eines neuen Spiels, das allen, die sich ihm verweigerten, das Leben kosten konnte, einen hohen Preis. Mit der Bemerkung „Putin war das Produkt eines Casting-Fehlers“ hat Giuliano da Empoli in einem Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung den Irrtum jener Kräfte charakterisiert, die eine Marionette wollten und einen Tyrannen neuen Typs bekamen.
In dem Roman Der Magier im Kreml des italo-schweizerischen Autors tritt Putin von vornherein als „der Zar“ auf. Damit ist die Rückwärtsgewandtheit seines Politikansatzes bereits angedeutet. Aus einem Russland, das sich in den 1990er Jahren in die Beute eines sich am Wirtschaftsliberalismus westlicher Prägung orientierenden Häufleins Oligarchen verwandelte, das die unklaren Besitzverhältnisse zu ihren Gunsten ausnutzte, will der neue Präsident wieder ein Reich machen, vor dem der Rest der Welt erzittern soll. Oder in den eigenen Worten eines immer selbstbewusster werdenden ersten Mannes im Staat, wie sie Wadim Baranow, die zentrale Figur in da Empolis Buch, wiedergibt: „Wir müssen unsere Souveränität wiedererlangen […] Unsere Pflicht besteht nicht nur darin, die Vertikale der Macht wiederherzustellen. Wir müssen eine neue patriotische Elite erschaffen, die bereit ist, alles zu tun, um Russlands Unabhängigkeit zu verteidigen.“
Als „Magier im Kreml“ steht jener Baranow im Zentrum von da Empolis Roman. Und in der Funktion eines der engsten Vertrauten des Präsidenten und Berater in dessen Aufstiegsjahren bewegt er sich in dem in Frankreich schnell zum Bestseller und Prix-Goncourt-Finalisten avancierten Werk in einem Umfeld, das zum Großteil aus historisch verbürgtem Personal besteht. Namen wie Garri Kasparow, Jewgeni Prigoschin, Eduard Limonow oder Michail Chodorkowski, um nur ein paar von jenen zu nennen, die da Empoli leibhaftig auftreten lässt, sind auch hierzulande – zumal nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine – hinlänglich bekannt. Und wenn Angela Merkel in der zweiten Hälfte des Romans in Erscheinung tritt, „korrekt gekleidet, in einem schwarzen Kostüm und Stiefeletten aus dem Supermarkt, wie üblich ohne Notizen“, und vom russischen Präsidenten mit einer Labradorhündin an ein traumatisches Erlebnis in ihrer Kindheit erinnert wird, nimmt das der Umkreis des Präsidenten fast wie das Zeichen für eine Zeitenwende auf: Der Westen macht sich plötzlich ungewohnt klein vor der neuen Macht.
Giuliano da Empoli, 1973 in Neuilly-sur-Seine geboren, gut vernetzt im italo-schweizerischen, französischen und italienischen Politik- und Wissenschaftsbetrieb, hat mit Der Magier im Kreml ein Romandebüt vorgelegt, das von Publikum und Kritik begeistert aufgenommen wurde, auch wenn es manchem Kritiker ein wenig zu russlandfreundlich vorkam. Natürlich hallt in dem pseudo-dokumentarischen Zugriff auf die russische Wirklichkeit der letzten drei Jahrzehnte nach, womit sich da Empoli in zahlreichen essayistischen Arbeiten – zuletzt erschien 2020 ein unter dem Titel Ingenieure des Chaos auch ins Deutsche übersetzter Essayband – bisher als international ausgewiesener Experte für politische Kommunikation und Propaganda beschäftigte, dem Wandel von Methoden der Einflussnahme auf die Meinungsbildung breiter Bevölkerungsschichten in der Gegenwart nämlich.
Die Fiktionalität des Erzählten hingegen unterstreicht die Rahmenhandlung, in die da Empoli seine Geschichte von Aufstieg und Fall eines Kreml-Propagandisten einbettet. Sie fingiert eine Gesprächssituation, in der Baranow, für den ein tatsächliches historisches Vorbild, Putins langjähriger Berater in Sachen Medien Wladislaw Surkow, existiert, einem westlichen Literaturwissenschaftler Rede und Antwort steht, der in Moskau mit Forschungsarbeiten zur russischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts beschäftigt ist. Den größten Teil des Romantextes nimmt deshalb auch die Lebensbeichte seiner Hauptfigur ein. Gerät die einmal ins Stocken oder entsteht Erklärungsbedarf, bringen geschickte Zwischenfragen des Interviewers das Gespräch wieder in Schwung.
Dass es Jewgeni Samjatins (1884 – 1937) in einer vollständigen Fassung erst 1988 in der Sowjetunion erschienener Roman Wir (1920) ist, über den da Empolis einzelgängerischer Erzähler mit dem verschwundenen Wadim Baranow in Kontakt kommt, wundert im Übrigen nicht. Denn in diesem Buch beschreibt der von der Realität des Lebens nach der Oktoberrevolution von 1917 tief enttäuschte und 1937 im französischen Exil verstorbene Schriftsteller eine dystopische Gesellschaft, die in vielen Zügen wie ein Abbild des heutigen Russland wirkt. Oder wie es der Roman ausdrückt:
Er dachte, er habe eine scharfe Kritik an dem im Aufbau befindlichen Sowjetsystem verfasst. Selbst seine Zensoren hatten ihn so gelesen, weshalb sie die Veröffentlichung verboten hatten. Doch in Wahrheit richtete Samjatin sich gar nicht an sie. Ohne sich dessen selbst bewusst zu sein, hatte er ein Jahrhundert übersprungen und sich direkt an unsere Zeit gewandt.
Als „Magier im Kreml“ trägt Baranow anderthalb Jahrzehnte zum Aufbau der Macht des neuen Zaren bei. Auf seinen Rat hin gewinnen bestimmte Personen an Bedeutung, andere verlieren über Nacht ihren Einfluss, Dritte gar ihr Leben. Als Putin schließlich niemanden mehr fürchten muss, er auf dem Gipfel seiner politischen Karriere angekommen ist, wird auch sein engster Berater für ihn überflüssig, ja, er beginnt Baranow sogar zu fürchten, kennt der doch die Mechanismen der Machtausübung des Präsidenten wie kein anderer. Doch selbst nach seinem Abtauchen bleibt der Mann, der wesentlich an der Konstruktion eines neuen, in weiten Zügen übrigens komplett fiktiven, durch nichts in der Realität wirklich gedeckten Selbstbildnisses Russlands und seines Präsidenten mitwirkte, in aller Munde.
Giuliano da Empolis Roman ist vor dem Beginn des Ukraine-Kriegs entstanden. Ob er den Roman heute genauso wieder schreiben würde, hat der Autor zumindest in Frage gestellt. Brachten die Krisen der Gegenwart doch Züge an Putin und dem in Russland herrschenden System zum Vorschein, die während der Jahre, in denen der Roman spielt, noch nicht so ausgeprägt waren bzw. sorgfältig verdeckt wurden. Doch zu da Empolis Sicht auf unsere Gegenwart gehört auch, dass er den Westen mit in die Verantwortung für die aktuelle Situation nimmt: „Der Westen hatte den Kalten Krieg gewonnen und hatte danach kein Interesse, sich mit der russischen Sicht auseinanderzusetzen.“
Der Magier im Kreml verfolgt die Entwicklung eines autoritären Machtgefüges. Einmal auf den Weg gebracht, entwickelt sich dieser Apparat irgendwann von ganz allein weiter und lässt schließlich sogar die Intentionen desjenigen hinter sich, der den Prozess mit angestoßen hat. Sitzt die Macht erst einmal fest im Sattel, muss sie ihr Steigbügelhalter fortan fürchten. Insofern steht Baranows weiterer Lebensweg schon zu der Zeit fest, in der er noch Zugang zu den Privatgemächern des „Zaren“ besitzt und sich in der Illusion wiegen kann, unersetzbar zu sein. Doch diese Zeiten sind spätestens in dem Moment vorbei, in dem der neue Machthaber begreift, dass Macht nicht nur auf offener wie gut kaschierter Gewalt beruht, sondern sich auch immer von Gewalt – solcher von außen als auch solcher aus den eigenen Reihen – bedroht sieht. Ein Teufelskreis, dem man letztlich nicht entkommt. Und da Empoli hat in dem oben bereits erwähnten NZZ-Interview treffend formuliert, was das letztlich bedeutet: „Macht zu haben, ist der ultimative Charaktertest.“ Ein Test, den weder Baranow noch Putin letzten Endes bestehen.
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