Mad Maniacs
In seinem Roman „MANIAC“ begibt sich der chilenische Autor Benjamin Labatut auf die Spuren des Computerpioniers John von Neumann
Von Beat Mazenauer
„Die Zukunft macht uns so viel Hoffnung, wie sie uns gruseln lässt.“ Benjamin Labatuts Roman MANIAC bringt die Ambivalenz der Gefühle auf diese kurze Formel. Hoffnung und Grauen gingen vermutlich schon immer Hand in Hand, doch die Gegenwart stellt diesbezüglich neue Maßstäbe. Labatut erzählt die Geschichte dessen, der entscheidend mit angestoßen hat, was uns heute bedrückt und unentbehrlich zugleich erscheint: John von Neumann, oder mit seinem ursprünglichen ungarischen Namen Neumann János Lajos (1903-1957). Er war ein Jahrhundertgenie, der schon als Kind eine außerordentliche mathematische Begabung bewies. Mit 18 studierte er in Berlin, mit 23 diplomierte er an der ETH Zürich und promovierte zugleich in Budapest. Anschließend bildete er sich bei David Hilbert in Göttingen weiter und tat sich in jungen Jahren mit grundlegenden Arbeiten zur Quantenmechanik und zur Spieltheorie hervor. Nach ersten Aufenthalten in Princeton in den späten 1920er Jahren emigrierte er nach der Machtübernahme der Nazis dauerhaft in die USA. Mit dem Namen von Neumann sollten sich fortan einige wesentliche technische Innovationen verbinden, von der Atombombe über die Architektur der modernen Computer bis zu frühen KI-Ideen. Kurzum: „Ein Außerirdischer unter uns“, so Labatut.
In seinem Roman nähert er sich von Neumann literarisch, indem er ihn aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Er lässt eine Reihe von Weggefährten erzählen. Sein früher Lehrer Eugene Wigner erinnert sich mit Empathie an den „scharfen, blitzschnellen Verstand“, der selbst ihm, dem späteren Physik-Nobelpreisträger, stets unerklärlich geblieben sei. Der Mathematiker Gabor Szegö beschreibt ihn als „brillant, aber kindisch, scharfsinnig, aber unglaublich oberflächlich“. Als von Neumann seine vielleicht einzige wissenschaftliche Niederlage durch Kurt Gödel und dessen Theorem, dass „die Widerspruchsfreiheit der Mathematik unbeweisbar ist“, erlitten habe, so Szegö, sei er konsterniert gewesen, zugleich „buchstäblich freigelassen.“ Forscher aus dem Umkreis des „Manhattan“-Projekts zeichnen ein ambivalent schillerndes Bild von Neumanns, das zwischen MAD, der von ihm begründeten Abschreckdoktrin „Mutually Assured Destruction“, und MANIAC, dem „Mathematical Analyzer, Numerical Integrator and Computer“, oszilliert. „Er wusste, die wahre Herausforderung bestand nicht darin, das Ding zu bauen“, hält der Elektrotechnik-Ingenieur James Bigelow fest, „sondern ihm die richtigen Fragen zu stellen, in einer für die Maschine verständlichen Sprache. Und er war der Einzige, der diese Sprache beherrschte.“ Er war sich absolut bewusst, dass ein sequentieller Computer wie der MANIAC nie die innere Logik eines Gehirns nachzuahmen vermag und für eine richtige, mit Intuition begabte künstliche Intelligenz eine neue Sprache vonnöten sein würde.
Nicht alle der von Labatut versammelten Stimmen sind von Neumann gewogen. Der streitbare Nils Aal Barricelli beklagt sich energisch darüber, dass jener ihm Ideen gestohlen habe. Unter all den Männern kommen auch zwei Frauen namhaft zu Wort. Zum einen die Tochter Marina, selbst eine begabte Mathematikerin, und Klara, die eigenwillige, zugleich sich aufopfernde Ehefrau, die ursprünglich Eistänzerin war und später eine talentierte Programmiererin wurde. Aus all den widerstreitenden Stimmen formt sich im Lauf der Lektüre das Bild eines außerordentlich intelligenten, visionären, zugleich skrupellosen, auch humorvollen und gänzlich in seine Arbeit vernarrten Menschen, der weit über den Horizont der damaligen Zeit hinausdachte. Am MANIAC-Supercomputer arbeitete er tagsüber am Bau der Wasserstoffbombe, um mit ihm nachts seine „Theorie der Selbstreplikation zu entwickeln, die Biologie, Technologie und Computertheorie miteinander vereinte“. Von Neumann war neben Alan Turing der Einzige, der diesen Weg voraussah. Während Turing aber noch in Zweifeln befangen war, lieferte sich von Neumann ganz der Hybris der Machbarkeit aus. „Höhlenmenschen haben die Götter erschaffen“, wird er zitiert, „Ich wüsste nicht, warum wir das nicht auch tun sollten.“ Und bei anderer Gelegenheit: „Wenn Sie mir konkret sagen, was genau eine Maschine nicht kann, kann ich immer noch eine bauen, die genau das leistet.“ Nur eines konnte er nicht verhindern, wovor er selbst große Angst hatte: dass er nämlich vergessen gehen könnte.
Benjamin Labatut gelingt es mit seiner Mehrfachperspektive, ein plastisches, von Widersprüchen konturiertes Bild von Neumanns zu zeichnen, das auch einen Eindruck von dessen Epoche wiedergibt. Es gelingt ihm auch deshalb, weil er die unterschiedlichen Stimmen stilistisch differenziert aufzufächern und ihnen einen je eigenen Erzählton zu verleihen vermag. Eingerahmt werden sie von zwei Kapiteln in auktorialer Rede. In einem kurzen Prolog tritt der jüdische Physiker Paul Ehrenfeld auf, der am 25. September 1933 zuerst seinen behinderten Sohn und anschließend sich selbst erschoss. Ehrenfeld war beliebt und begabt, aber er war verzweifelt darüber, wie er in einem Brief an Niels Bohr schrieb, dass er „endgültig den Kontakt zur theoretischen Physik verloren“ habe. Eine „mathematische Pest“ greife um sich, „die alle Vorstellungskraft auslöscht“. Diese Klage war ganz konkret auf John von Neumann und seine „furchtbare mathematische Kanone“ gemünzt. Ehrenfeld verabscheute ihn, vielleicht vorausahnend, welcher Hybris von Neumann erliegen wird.
Verglichen damit wirkt das dritte Kapitel auf den ersten Blick fremd und unzugehörig innerhalb von Labatus‘ Komposition. Er macht darin einen Sprung vorwärts in die 2010-er Jahre und erzählt die Geschichte des durch KI getrimmten Computerprogramms AlphaGo, das 2016 den besten Go-Spieler Lee Sedol in einem Turnier besiegte. Vor allem die zweite Partie sei in Erinnerung geblieben, schreibt er, und sollten Historiker dereinst versuchen, „den Schimmer einer echten künstlichen Intelligenz auszumachen“, so sei es der verblüffende Zug 37, den AlphaGo am 10. März 2016 spielte. Zwar vermochte sich Lee Sedol in der dritten Partie zu revanchieren, indem er einen Verteidigungsstein mit dem Mut eines Hasardeurs setzte und so das Programm förmlich ausrasten ließ, sodass es „plötzlich jeden Sinn für Stellung und Wert verlor“. Immerhin, mehr aber nicht; die vierte Partie und somit das ganze Turnier ging verloren. Macht jene dritte Partie Hoffnung, lassen die anderen drei uns gruseln, gerade auch mit Blick auf den gegenwärtigen Wettstreit um selbstlernende Algorithmen, die – wie im Fall von AlphaGo – selbst von den Machern nicht mehr verstanden, geschweige denn eingefangen werden können.
MANIAC gibt darauf keine Antworten. Indem der Roman an den Ursprung der Computertechnologie erinnert und die Figur des John von Neumann scharf beleuchtet, macht Benjamin Labatut jedoch deutlich, welche Bedenkenlosigkeit seither mit diesem Forschungsfeld einhergeht. Günther Anders‘ Feststellung eines „prometheischen Gefälles“, die er in seiner Antiquiertheit des Menschen 1956 traf, scheint sich zu bewahrheiten. Demnach verläuft der „Riss, der den Menschen zerspaltet“, nicht zwischen Geist und Körper, „sondern zwischen unserer Herstellungs- und unserer Vorstellungsleistung“. Anders dachte dabei vor allem an die Atombombe, heute indes rückt unweigerlich die künstliche Intelligenz ins Bild. Wir verstehen nicht mehr, was wir produzieren.
Labatut bringt zwischen den Zeilen einen zweiten Aspekt ins Spiel. Auch wenn Klara und Marina von Neumann zu Wort kommen, bleibt MANIAC ein Buch der männlichen Heroen. Nicht aus Kalkül, eher aus Verlegenheit, denn die technologische Entwicklung in der Mitte der 20. Jahrhunderts war eine Angelegenheit von männlichen Technokraten. Der Roman zeichnet das gespenstische Bild einer politisch-ökonomisch getriebenen Wissensgesellschaft, in der technische Innovationen ohne Rücksicht auf menschliche, ethische Werte vorangetrieben werden.
Auf dem Buchumschlag wird der Moderator und Philosoph Wolfram Eilenberger lobend zitiert: „Labatuts Stimme ist aus der Zukunft gekommen, um uns von dem Fluch unserer Gegenwart zu befreien.“ Wie schön – wenngleich falsch! MANIAC vergegenwärtigt viel eher den Fluch, der uns heimsuchen wird, wenn wir nicht Vorsorge treffen (– falls dies noch möglich ist). Von Befreiung ist in dem Buch keine Spur, dafür von Gewinn an Erkenntnis. Labatuts Roman zieht die drängende Frage nach sich: Welchen Heldenstatus wollen wir den Mad Maniacs verleihen, die sich um ihre gesellschaftliche Verantwortung foutieren? Sinnbildlich für dieses Versagen sind das Statement oder der offene Brief, mit denen Promotoren der KI-Forschung wie Sam Altman (OpenAI), Bill Gates, Elon Musk oder der Gründer von AlphaGo, Demis Hassabi (DeepMind, Google), vor den „important and urgent risks from AI“ warnen und ein sechsmonatiges Moratorium für jegliche KI-Forschung fordern. Ist das nur naiv, oder einfach gruselig? Die umtriebige Sorge mit apokalyptischem Unterton soll, ist zu vermuten, wohl eher verhindern, dass echte Regulierungen getroffen werden.
In dieses Wespennest sticht Benjamin Labatuts so lesenswerter wie fesselnd erzählter Roman. Seine vielleicht unheimlichste Erkenntnis besteht darin, dass sich technischer Fortschritt jeder gesellschaftlichen Kontrolle entzieht und dafür die Mad Maniacs mit Heldenstatus honoriert und hofiert werden. Es bleibt nur zu hoffen, dass wir nicht alle gemeinsam in eine Depression fallen wie Garry Kasparov 1997 nach der Niederlage gegen AlphaZero oder zwei Jahrzehnte später Lee Sedol.
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