Schon wieder Mann
In „Thomas Mann, Der Tod in Venedig und die Grenzgänge des Erzählens“ schlagen die Herausgeber Alexander Honold und Arne Klawitter mit der interkulturellen Lesebrille ein innovatives Forschungskapitel auf
Von Eva Schützendübe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Tod in Venedig zählt zusammen mit den Buddenbrooks wohl zu den bekanntesten Werken von Thomas Mann. Mit dem vierten Band der Reihe Signaturen der Moderne wird die anhaltende literaturwissenschaftliche Forschung nun um eine weitere Herausgeberschrift von Alexander Honold und Arne Klawitter ergänzt: Thomas Mann, Der Tod in Venedig und die Grenzgänge des Erzählens bietet interkulturelle Analysen und zeigt kurz und bündig auf 209 Seiten, dass fachliche Lektüre durchaus spannend und leichte Kost sein kann. Obwohl bei diesem Sammelband bereits bekannte Forschungsbeiträge, z. B. von Thomas-Mann-Preisträger Hermann Kurzke, das Fundament bilden, so versuchen die elf Autor*innen in ihren Beiträgen und epischen Analysen stets neue Ergebnisse zu präsentieren. Die wohl größte Innovation bei der wiederholten Lektüre von Thomas Manns Novelle ist die des interkulturellen Blickwinkels: Es besteht ein ziemlich ausgewogenes Mischverhältnis zwischen deutschen und japanischen Autor*innen, sodass einzelnen (und teilweise bisher nicht beachteten) Aspekten des epischen Textes eine multiperspektivische Deutung zukommt. Den Herausgebern zufolge soll „die interkulturelle Dimension der Literaturvermittlung zum Ausgangspunkt einer systematischen Rekonstruktion der Textualität von Thomas Manns Novelle genommen“ werden. Vor diesem Hintergrund erfolgen auch mediale Interpretationsansätze, die sich in filmischen, musikalischen und kartographischen Bezügen bei der Rezeption der Venedig-Novelle niederschlagen.
Die Herausgeberschrift ist in drei große Überkapitel zu Raumordnungen, Blickverhältnissen und Rezeptionsweisen aufgeteilt, denen ein Einführungskapitel von Honold und Klawitter mit einer knappen Vorstellung des Forschungsvorhabens und der nachfolgenden Beiträge vorangestellt ist. Formal besticht der Band in seiner übergreifend einheitlichen Zitierweise, auch wenn die von den Herausgebern anfangs eingeführte Abkürzung des Novellentitels mit der Sigle TiV etwas fragwürdig erscheint und sogleich fallen gelassen wird. Lobenswert sind die kurz gehaltenen Forschungsbeiträge, die häppchenweise nochmals in Unterkapiteln serviert werden, sodass auch Laien ein schneller Nachvollzug der zuweilen komplexen Erzähltextanalysen gelingt. Gerade Arne Klawitter und Thomas Schwarz arbeiten in Bezug auf die Raumordnungen besonders nah am Novellentext. Insofern verwundert es kaum, dass die Lektüre von Thomas Mann, Der Tod in Venedig und die Grenzgänge des Erzählens manchmal etwas redundant wirkt, wenn in mehreren Beiträgen die Szene des zufällig gescheiterten Abreiseversuchs des Protagonisten Aschenbach zitiert wird. Diese Tatsache ist gewiss eine Begleiterscheinung der Gattung epischer Kleinformen, balanciert sich aber gut über die jeweiligen thematischen Schwerpunkte der einzelnen Autor*innen aus.
In diesem Kontext sticht beispielsweise der Beitrag von Katrin Bedenig „Zur Funktion der Farben in Der Tod in Venedig“ hervor, die sie präzise in einem eigenen graphischen Diagramm zur Farbauswertung illustriert. Leider wird die am zweithäufigsten genannte Farbe Blau nur am Rande thematisiert und zur Diskussion offengelassen. Stattdessen liegt der Fokus isoliert auf der Primärfarbe Rot, die gemeinsam mit den Nicht-Farben zu einer recht stimmigen Farbanalyse geführt wird. Ebenfalls erfrischend ist Mashiro Itos Kapitel zu den Frauenfiguren in Thomas Manns homoerotischer Novelle, da es laut der Verfasserin „gerade wegen dieser Abwesenheit nötig [sei], die Frauengestalten und das ‹Weibliche› […] als eigene Problematik zu erörtern“. Ihr Rezeptionsansatz gestaltet sich äußert innovativ, bleibt jedoch nach einer intensiven Textarbeit Itos lediglich eine ergebnisarme Problematisierung der bisher eingeschränkten Forschungsdebatte.
Die Herausgeberschrift enthält neben neuen Lesarten auch einige komplexe literaturtheoretische Beiträge, zum Beispiel den von Tobias Schickhaus zu Gattungstraditionen und erzähltem Wissen um Thomas Manns Novelle sowie die Aufsätze von Pornsan Watanangura und Yahya Elsaghe, die sich mit den Literaturverfilmungen befassen. Die Zusammenhänge zwischen Autor und Werk fallen bei dem dritten Überkapitel zu den Rezeptionsweisen besonders stark ins Gewicht, was allerdings im letzten Aufsatz von Christopher Schelletter und seiner intertextuellen Analyse homoerotischen Erzählens wieder zugunsten des epischen Textes gelockert wird. Durch seinen ausführlichen Vergleich der Venedig-Novelle mit Mishima Yukios Bekenntnisse einer Maske – aber stellenweise auch mit Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Grey – gelingt in zweierlei Hinsicht ein schöner Abschluss des Sammelbandes: Erstens wird der Fokus der Rezipient*innen beiläufig über die Grenzen von Thomas Manns epischem Werk hinweggehoben und zweitens schließt sich der Kreis des japanisch-deutschen Forschungsvorhabens in der interkulturellen Erzähltextanalyse.
Insgesamt bietet Thomas Mann, Der Tod in Venedig und die Grenzgänge des Erzählens einen knackigen Überblick der aktuellen Forschung mit lobenswerten Innovationen und reichlich vielen Anregungen zum Vertiefen. Gelegentlich scheinen die Interpretationsansätze zu wenig in die Tiefe zu gehen, wodurch die einzelnen Beiträge aber angenehm kurz und leicht verständlich bleiben. Dies mag gerade für Neueinsteiger*innen erfreulich sein, wohingegen Literaturwissenschaftler*innen die Herausgeberschrift eher als Ausgangspunkt für detailliertere Recherchen nutzen werden.
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