Diese eine Liebe, über die man nie hinwegkommt

In Ludwig Steinherrs Novelle „Jessicas Besuch“ wird eine scheinbar verdrängte Liebe erneut entfacht

Von Aylin KaraogluRSS-Newsfeed neuer Artikel von Aylin Karaoglu

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit der ersten Begegnung mit der Künstlerin Paola ist sich der junge Jesuit Korbinian sicher, dass sie zusammengehören. Er wirft alles, was ihn als Menschen ausmacht, über Bord: Für Paola verlässt er die katholische Ordensgemeinschaft, betet seltener und betritt kaum noch die Kirche. Denn für Paola hat Religion keinen Wert. Im Gegenteil, „Gott ist für sie der Yeti. Das Monster von Loch Ness“.

Im mittlerweile verflixten siebten Jahr der bislang scheinbar harmonischen Ehe von Paola und Korbinian kriselt es heftig. Auch der Wohnortwechsel von Rom nach Würzburg ändert nichts daran. Während Jessicas Kunstgalerie floriert und sie glücklicher nicht sein könnte, „arbeitet [Korbinian] sich tot“ und ertrinkt förmlich in seinem Unglück, da er sich nicht mehr länger in seinem Beruf als Verleger, sondern vielmehr als Priester sieht. Und dann ist da noch Jessica. „Nach sieben Jahren. Einfach so.“

„Jessica und Korbinian. Was war das?“ Vor der Begegnung mit Paola leitete der junge Jesuit neben seinem Studium noch einen Mediationskreis, in den Jessica, eine abgedrehte Popsängerin, durch Zufall hineinstolperte. Sie war die erste Frau in Korbinians Leben. Mit ihrer künstlerisch-extrovertierten Art schlägt sie wie ein Komet in sein Leben ein und wirbelt sein Weltbild durcheinander. Obwohl Jessica, Mutter von zwei Kindern, bereits verheiratet ist, verliebt sich der angehende Priester in sie und verbirgt diese Liebe. Als Jessica dann ihrem Mann nach Schweden folgt, wissen sie und Korbinian nicht, „dass es für sieben Jahre ihre letzte Begegnung war“.

Der freie Schriftsteller Ludwig Steinherr ist nach über zwanzig veröffentlichten Gedichtbänden eine Koryphäe in der Lyrik. Erst vor einem Jahr wagte er mit seinem Debüt Verona kopfüber einen Schritt in die Welt der Prosa. Mit Jessicas Besuch veröffentlichte er 2023 seine fünfte Novelle. Mit wenigen Worten – aber einem authentischen Schreibstil – entführt der Autor den Leser in das Leben eines ehemals frommen Mannes, dessen Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen.

Aus der Perspektive Korbinians wird eine gewöhnliche Geschichte präsentiert, die einigen Lesern vermutlich teils selbst widerfahren ist: ein bereits unglückliches Eheleben wird durch aufkommende Geheimnisse und die Rückkehr einer alten Liebe zusätzlich erschüttert. Schnell wird klar, dass Steinherr hier wohl ein „Männerbuch“ verfasst hat, das vor allem emanzipierte Leserinnen die Beherrschung verlieren lassen kann. Denn obwohl Korbinian derjenige ist, der sich in einer moralisch verwerflichen Situation befindet, wird der Leser stets dahin gelenkt, Verständnis und Mitleid für ihn zu empfinden – der arme Korbinian, der sein eigenes Leben aufgab, um zum Schoßhündchen seiner gewaltbereiten und eifersüchtigen Paola zu werden: „Aber merk es dir! Wenn du mich je betrügst. Peng. Peng.“

Zudem wird auch mithilfe von Rückblenden verdeutlicht, dass Korbinian bereits in Jessicas Welt nur die Rolle des „Versagers“ einnimmt. Während die Popsängerin bei ihren Auftritten „den Raum mit strahlender Präsenz“ erfüllt und Tom, ihr Mann „der absolut coolste Mensch [ist], den Korbinian kennt“, beschäftigt ihn selbst die Frage: „Gibt es in meinem Leben etwas, was ich je so beherrschen werde?“.

Im Verlauf der Geschichte erzielen die Frauen mit ihrer stereotypischen emanzipatorischen Performance deutlich mehr Aufmerksamkeit als Korbinian. Während er „in der Luft [hängt]“, führen Paola und Jessica leidenschaftliche Kämpfe, um sich beruflich zu etablieren. Auch mit ihrer eher ruppigen, lauten und aufgekratzten Art entsprechen sie eher weniger dem traditionellen Frauenbild einer „feinen Dame“.

Der Verlauf der Geschichte ist schnell vorhersehbar, wodurch kaum Spannung aufgebaut wird. Vermeintlich große Wendungen werden in einer kraftlosen Einfachheit erzählt und schnell abgehandelt, sodass der Leser ohne „Herzsekundentod“ das Buch entspannt durchlesen kann. Wer erwartet, dass zumindest die Beziehung zwischen Korbinian und Jessica als eine ungezügelte, leidenschaftliche Affäre dargestellt wird, wird erneut enttäuscht. Im Gegenteil, Gefühle und Zuneigungen werden nur zurückhaltend angeteasert. Gleichwohl lassen sowohl die Dominanz von Dialogen als auch ein ständiger Schauplatzwechsel die Geschichte etwas dynamischer wirken. Durch das offene Ende der Novelle wird nicht verraten, welche Entscheidung Korbinian trifft. Trotz einer Nullfokalisierung, bei der der Leser durch den Erzähler einen uneingeschränkten Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren erhält, kann nicht vorhergesehen werden, ob Korbinian bei seiner Frau bleibt oder auf das Treffen mit Jessica eingeht und die Liebe erneut entfacht wird. So bleibt das Ende der Geschichte ein Rätsel, bei dem der Leser erstmals gefordert wird.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ludwig Steinherr: Jessicas Besuch. Novelle.
Books on Demand, Norderstedt 2023.
108 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783757803216

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