Respekt und Gelassenheit!
Ein Gastronom schenkt uns „Goldene Regeln“ für den Restaurantbesuch – und weit darüber hinaus
Von Dirk Kaesler
Verehrte Leserin, geehrter Leser,
erinnern Sie sich noch an meine Rezension des wunderbaren Bildbandes von Helena Heilig über die Wirte im Lockdown?
Das hier anzuzeigende Buch des Kölner Gastgebers Vincent Moissonnier erscheint dem Rezensenten wie ein liebenswertes Echo eines Bruders im Geiste.
Erwartungen an Gast-Wirte und Gäste
Unter der Zwischenüberschrift „Soziologische Nachdenklichkeit“ verwies ich in der im Januar 2022 erschienenen Rezension auf die Arbeiten des von mir so sehr geschätzten Klassikers der Soziologie Norbert Elias und sein Buch Der Prozess der Zivilisation. Davon ausgehend, skizzierte ich meine Wunschvorstellungen davon, wie das künftige Zusammenspiel von Gast und Gastwirt aussehen könnte:
Am Eingang jeder Gast-Stätte hängt in Zukunft ein Schild: „Ich, der Herr XY und/oder die Frau YZ, bin hier Ihr Gast-Geber. Sie sind hier mein Gast. Willkommen!“
Das heißt: Ich, der Wirt werde Sie wie meinen persönlichen Gast behandeln. Ich, der Gast-Wirt – oder jene Menschen, die ich an Ihren Tisch gesandt habe –, werde mich Ihnen vorstellen. So wie wir das aus den USA kennen: „Hi, my name is Cathy. I will be your waitress this evening.“ Und das sagt im Deutschland der Zukunft die Katarina oder der Carlos nicht, weil das die Spekulation auf das Trinkgeld ist, sondern weil der Gastgeber seinen Gast begrüßt. Und dem Gast signalisiert, dass wir uns über sein Kommen freuen und ihn verwöhnen wollen. Und nicht, weil wir in ihm den zahlenden Kunden sehen, sondern als jemanden, dem wir unsere Gastfreundschaft anbieten.
Das heißt jedoch zugleich: Ich, der Gast, benehme mich genauso, wie ich das täte, wenn ich bei Verwandten, Freunden, Bekannten, Fremden zu Besuch eingeladen würde. Ich bringe zwar keine Blumen für die Gastgeberin oder eine gute Flasche für den Gastgeber mit, ich frage auch nicht, ob ich die Schuhe ausziehen soll, aber ich signalisiere mit einem Lächeln, dass ich mich über die Einladung gefreut habe (auch wenn ich sie selbst organisiert habe).
Ich wasche mir die Hände, bevor ich die Speisekarte nehme, und höre aufmerksam zu, was mir Katarina oder Carlos empfehlen. Und wenn das Essen oder das Getränk kommt, sehe ich jene Menschen an, die mir das Bestellte bringen. Und wenn es nicht das Bestellte sein sollte oder es länger gedauert hat, als ich dachte, bleibe ich dennoch freundlich. Ich bin der Gast und nicht die PIN der Bankkarte.
Die Figuration Gastwirt-Gast ist wie ein elegantes Menuett: nicht zu nah – ich verabscheue es, wenn Wirte glauben, sie könnten sich ungefragt an den Tisch dazusetzen – und nicht zu fern. Nicht von oben herab dozierend – keine langen Vorträge über die Geschmacksnoten des kredenzten Weines, das schmecke ich selbst –, aber auch kein minimalistisches VordieNaseSetzen – „Nummer 87, Nasi-Goreng, scharf“.
Es braucht nicht unbedingt die Tournee des Kochs oder der Köchin von Tisch zu Tisch. Aber wenn die freundlich gemacht wird, ist es eine sehr elegante Krönung der Stunden als Gast. […] Es braucht schon lange keine Cloches mehr, die gleichzeitig von allen Tellern hochgehoben werden, aber die kleinen Details, die die Nahrungsaufnahme zum Fest machen, sollten gewahrt werden. Oder wieder neu kultiviert werden.
Es ist nicht der Familientisch, an dem dieses Fest begangen wird, aber es ist ein Ess-Tisch. Und damit jene – hoffentlich schön dekorierte – Fläche, um die herum das Hohelied der Tischmanieren gesungen werden kann. Auch deswegen liegen niemals Handys auf diesem Tisch. Auch in Zeiten, in denen man schon lange den Spargel kleinschneiden kann, in denen man die Kartoffeln mit dem Messer teilen darf, ist es dennoch kein Grund, nicht zu zeigen, dass man kultiviert und zivilisiert essen kann. Und das nicht nur in Sternerestaurants, sondern auch an Tischen, auf denen nicht einmal eine Tischdecke liegt. […] Aber immer muss es ein zivilisiertes Fest sein, und nicht nur der Konsum von Nahrungsmitteln und Getränken.
Auch dazu hat Norbert Elias viele Seiten gefüllt, wie sich diese Zivilisierung der Tischmanieren über Jahrhunderte entwickelt und verändert hat. Von der mittelalterlichen courtoisie über die höfische civilité zur neuzeitlichen Zivilisation. In den „Interdependenzketten“ der Menschen, in denen sie immer stärker miteinander verflochten sind, hat es sich bewährt, Selbstkontrolle über seine Affekte zu entwickeln: Wir warten, bis alle etwas zu essen bekommen haben. Der Wirt hat dafür gesorgt, dass alle gleichzeitig serviert bekamen. Wir trinken gemeinsam den ersten Schluck und schauen uns dabei an. Wir benutzen die bereitgestellten Esswerkzeuge. Beim Essen wird nicht über Ausscheidungsfunktionen gesprochen. Die vielfältigen Wandlungsprozesse, die zur Herausbildung der abendländischen Zivilisation geführt haben, sind alles andere als selbstverständlich, sie müssen von Generation zu Generation weitergegeben und immer wieder aufs Neue verteidigt werden. Jeder Einzelne muss lernen, auf die unmittelbare Befriedigung seiner Impulse und Bedürfnisse zu verzichten, egal, ob es um Gewalt, Sexualität, Hunger oder Durst geht. „Die Zivilisation ist noch nicht abgeschlossen“: Mit diesem Satz beginnt und endet Norbert Elias sein Buch.
Ein Gast-Wirt plädiert für Respekt
Mit seinem kleinen Büchlein – „passt in jede Damen-Handtasche“, sagt der Autor – erweist sich der Gastronom Vincent Moissonnier als genauso ein Gastgeber, wie ich ihn mir erträumt hatte. Zusammen mit seiner Frau Liliane Moissonnier betrieb er fast 40 Jahre das 2-Sterne-Restaurant „Le Moissonnier“ in Köln. Am 30. Juni 2023 wurde diese Kölner Institution, in der das Ambiente einer Pariser Brasserie herrschte, geschlossen. Für mich zu spät, ich war – zu meinem Bedauern – nie Gast der Moissonniers. Aber dafür lese ich nun mit Begeisterung das Buch, das wie eine wunderbare Abfolge von Speisen und Getränken komponiert ist.
Gewissermaßen als „Gruß aus der Küche“ berichtet der Schriftsteller und Germanist Hanns-Josef Ortheil in einem „Geleitwort“ von seinen eigenen und offenbar vielfältigen Erlebnissen in diesem gastronomischen Erlebnissaal in der Krefelder Straße 25 zu Köln. Auch Ortheil bezieht sich dabei auf einen Soziologen: den Analytiker der „feinen Unterschiede“, Pierre Bourdieu. Die Kunst, das Leben zu genießen, das „Savoir vivre“, so schreibt Ortheil, habe in diesem kleinen Büchlein sein Rezeptbuch gefunden. Es geht darum, sich „angemessen“ zu verhalten. Nein, das Buch sei keines der zuweilen unsäglichen „Benimmbücher“, es sei eher das Drehbuch zu jenem „Kammerspiel“, für das solche Restaurants die Bühne bieten:
Das Auge, der Mund, die Zunge, die Nase – sie alle kommen zum Einsatz und komplettieren die Ahnungen dessen, was man ‚den Geschmack‘ nennt. […] um sich ganz auf Essen, Trinken und das Schauspiel der freiwilligen Isolation zu konzentrieren, erlebt man im Le Moissonnier jene einzigartigen Stunden von Muße, Innehalten und Innewerden, auf die es in der großen Küche ankommt.
Wie es in den meisten Sternerestaurants üblich geworden ist, folgt ein zweiter Amuse-Gueule – heute zumeist verharmlosend „Amuse-Bouche“ genannt – aus der Feder des Journalisten Joachim Frank, Mitglied der Chefredaktion des Kölner Stadt-Anzeigers. Unter der Überschrift „L’Ouverture. Worum es geht“ liest man ein Gespräch zwischen Frank und Moissonnier, das mit der Frage beginnt: „Herr Moissonnier, wofür ist dieses Buch gut?“
Ein Buch also mit einer Gebrauchsanweisung? Es handelt sich um einen knappen Rückblick eines Gastwirts, der auf vier Jahrzehnte Berufserfahrung, auf 100.000 Stunden im Service zurückblickt. Mit der Altersmilde eines Erfahrenen plädiert Moissonnier vor allem für Gelassenheit und Genuss beim Besuch eines Restaurants dieser Klasse. Und schon auf den ersten Seiten fällt das entscheidende „Zauberwort“: Respekt. Nicht nur im Restaurant. „Daraus ergibt sich alles andere – und manchmal fast wie von selbst. […] Bleiben Sie gelassen! Seien Sie gut zu sich und zu den anderen! Und genießen Sie den Moment!“
Nach diesen beiden Vor-Speisen beginnt das Servieren eines wunderbaren und verzaubernden Menus. Die Überschriften der Kapitel signalisieren, worum es jeweils geht: L’Entrée, La Table, La Commande, La Culture, La Cohabitation, Les Adieux.
Eine Rezension ist keine Inhaltsangabe. Sie soll sagen, worum es geht. Und sie soll beurteilen, wie der Mensch, der das Buch geschrieben hat, seine Aufgabe gelöst hat.
Nachdem man in der Einleitung die Atmosphäre eines gehobenen Restaurants in sich im Geiste aufgenommen hat, widmen sich die sechs Kapitel der Abfolge des Geschehens am Tisch, an den der Wirt den Gast geleitet hat.
Moisonnier schreibt keineswegs nur über den Restaurantbesuch, sondern gleichermaßen über private Zusammenkünfte; auf beides möge man sich gut und gründlich vorbereiten. Im besten Fall, oder wie Moissonnier sagt, in der besten Welt von allen, ergibt das gegenseitige Bemühen ein harmonisches Miteinander zwischen Gastgeber und Gästen. Wie und wann lädt man ein? Was zieht man wozu an? Wie begrüßt man wen? Das zentrale Selbstverständnis dieses Gastwirts spiegelt sich in dieser Metapher wider:
Ein Restaurant ist ein Flugzeug. Die Gäste sind die Passagiere, die vom Start bis zur Landung auf Gedeih und Verderb zusammengepfercht sind. Der Wirt ist der Flugkapitän, der bis zum Aussteigen am Ziel für das Wohlbefinden aller an Bord verantwortlich ist. […] Wer ins Restaurant geht, soll sich wohlfühlen. Und wer ein Restaurant betreibt, dem soll es genauso sehr um das Wohlgefühl seiner Gäste gehen wie um das eigene.
Man kann aus diesem feinen Büchlein sehr viel lernen, auch wenn man denkt, man weiß schon alles über das Benehmen bei Tisch. Und das nicht nur im Restaurant, sondern auch bei privaten Einladungen. Und bei sich zu Hause! Zugegebenermaßen klingt aus vielen Passagen ein Ton, von dem manche heute sagen, er sei „überholt“. Überlässt Man(n) tatsächlich (immer noch) der Dame den besten Platz im Restaurant? Gibt es tatsächlich (immer noch) einen „ranghöchsten und wichtigsten Mann“, der rechts neben der Gastgeberin platziert wird? Steht ein Herr tatsächlich (immer noch) auf, wenn eine Dame den Tisch verlässt, um auf die Toilette zu gehen?
Des Freiherrn von Knigge Empfehlungen für unsere Zeit
Selbst wer nicht mehr an das Konzept von „Herr“ und „Dame“ glaubt, vielleicht nicht einmal darum weiß, sollte dieses Buch von Vincent Moissonier sorgfältig lesen. Es ist eine würdige und aktuelle Fortsetzung jenes so arg missverstandenen Klassikers Über den Umgang mit Menschen des Adolph Freiherrn von Knigge aus dem Jahr 1788. Auch jenes Buch hatte nichts mit der Frage zu tun, ob man einer Dame aus dem und in den Mantel hilft oder wer zuerst ein Restaurant betritt. Knigge ging es in keiner Weise um die Frage, ob man einen Risotto mit der Gabel oder einem Löffel isst, sondern um die Frage, auf die der Titel eigentlich unmissverständlich hinweist: Welche grundsätzlichen Regeln gelten für den mitmenschlichen „Umgang“ bzw. sollten dafür gelten.
In seinem „Vorwort“ schrieb Knigge:
Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.
Der Akzent lag und liegt auf „alle“ Arten von Menschen.
Auf der Basis seiner vierzigjährigen Erfahrungen, wie sich die Gäste seines Restaurants „benommen“ haben, wie sie miteinander „umgegangen“ sind – untereinander und gegenüber dem „Personal“ –, überlässt uns Vincent Moissonnier einen Schatz freundlicher Empfehlungen, keiner „Vorschriften“. Bedauerlicherweise weist der Buchtitel in eine andere Richtung. Es geht nicht um die Frage, was in welcher Reihenfolge gegessen wird und wieviel „Trinkgeld“ man geben sollte. Moissonnier hätte vermutlich nichts dagegen gehabt, wenn man den Käse erst nach dem Dessert bestellt hätte. Er hätte möglicherweise nicht einmal die Augenbrauen hochgezogen.
Denn ihm geht es erkennbar um die grundsätzliche Einsicht, von welch großem Vorteil es ist, es sein kann, wenn alle Beteiligten die Regeln des zivilisierten Umgangs miteinander kennen. Als Gast ist man darauf angewiesen, dass einem der Gastgeber eine angenehme Zeit bereitet. Als Gastgeber ist man darauf angewiesen, dass auch die Gäste ihren Beitrag dazu leisten und sich entsprechend verhalten. Manchmal sind es vermeintliche Kleinigkeiten, die einen schönen Abend weniger schön machen, sowohl für den Gastgeber als auch für die Gäste. Das gilt keineswegs nur im Sternerestaurant!
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