Die Konstruktion des Weißseins
Toni Morrisons „Im Dunkeln spielen“ richtet den Blick von den Imaginierten zu den Imaginierenden
Von Leoni Buchner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWer Toni Morrison ist, sollte eigentlich jeder*m Lesenden klar sein: als erste Schwarze Frau, die den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, ist sie bis heute eine der einflussreichsten amerikanischen Autorinnen. Sie schrieb über eine Lebensrealität, welche Jahrhunderte lang verschwiegen wurde. Ihre Schilderungen des Schwarzen Amerikas und ihre prägnante, poetische Sprache beeinflussen auch heute noch unzählige Autor*innen. Morrison ist sich in ihrem Schreiben der Macht der Worte und schriftstellerischer Imagination bewusst und nutz diese auf eine einzigartige Weise. Aber nicht nur Morrisons Romane wie The Bluest Eye oder Song of Solomon sind bis heute von größter Relevanz. Morrison studierte Anglistik, war Dozentin für englische Literatur und hatte ab 1989 einen Lehrstuhl für afroamerikanische Literatur in Princeton inne. Sie beschäftigte sich also nicht nur als Schreibende mit Literatur, sondern hinterfragt die Macht der Worte und ihre Konstruktion in einem wissenschaftlichen Kontext. Diese Betrachtungen haben nichts an ihrer Aktualität verloren, was die Essay Sammlung Im Dunkeln spielen – sie basiert auf drei Vorträgen, die Morrison 1990 an der Harvard Universität gehalten – nur allzu deutlich zeigt.
Es ist keine neue Erkenntnis, dass auch in Deutschland der Präsenz Schwarzer Figuren in der Literatur lange keine Beachtung geschenkt wurde. Die Konstruktion dieser Figuren wurde ignoriert und stereotype, rassistische Bilder werden bis heute reproduziert. Der öffentliche Diskurs um das Thema Rassismus scheint sich jedoch in den letzten Jahren zu wandeln – Darstellungen werden hinterfragt, rassistische Begriffe in Werken teilweise umgeschrieben. Das Thema Rassismus ist deutlich präsenter geworden. Doch trotz dieser positiven Entwicklungen haben jüngere Umfragen gezeigt, dass der Rassismus in Deutschland in den letzten Jahren wieder massiv zugenommen hat. Gerade literarische Texte haben häufig die Macht, unser Denken und unsere Vorstellungen zu lenken und zu hinterfragen. Auf der anderen Seite spiegeln sie aber auch unsere Sehnsüchte, Vorurteile oder Ängste, weshalb eine Betrachtung von den in der Literatur verwendeten Mechanismen in der Auseinandersetzung mit Rassismus eine wichtige Rolle spielen kann.
Morrison lenkt in Im Dunkeln spielen ihren Blick dabei auf eine Perspektive, die in den heutigen Diskursen häufig nicht beachtet wird: Sie analysiert, wie in der amerikanischen Literatur eine afrikanische Präsenz konstruiert wurde [wann?] und betrachtet, welchem Zweck diese diente. Das Besondere an Im Dunkeln spielen ist, dass Morrison nicht daran gelegen ist, Autor*innen zu canceln. Sie bewertet nicht, ob ein Werk rassistisch sei oder nicht. Sie analysiert, wie Schwarze Menschen in Texten weißer Autor*innen bestimmte Funktionen in Bezug auf die Entwicklung oder Emotionen der weißen Figuren auslösen können. Dabei fokussiert sie sich auf Schlüsselwerke der amerikanischen Literatur – unter anderem Poe, Hemingway oder Melville. Ihr Anliegen ist es, die Wirkung dieser imaginierten Schwarzen Präsenz auf die Konstruktion des Weißseins offen zu legen. Sie widmet sich also dem Einfluss des Rassismus auf die, die ihn aufrechterhalten. In ihren Betrachtungen sucht sie so nach einer Begründung für die Konstruktion des literarischen Weißseins. Dadurch bereichert sie den Diskurs um Rassismus um eine Perspektive, die den Blick weg von den Beschriebenen zu den Beschreibenden richtet.
Bei der hier besprochenen Ausgabe handelt es sich um eine überarbeitete und aktualisierte Übersetzung aus dem Englischen von Mirjam Neunning. Die Essaysammlung wurde bereits 2013 in einer deutschen Übersetzung veröffentlicht, bei der jedoch einige Fehler unterlaufen sind: Toni Morrison analysiert in ihrem Werk Rassismus und seine Konstruktion, sowie seine Auswirkungen auf die menschliche Psyche. In der ersten Übersetzung wurden Stereotype Denkmuster, Begriffe und Wörter reproduziert, was gerade bei einem Werk, welches sich mit der Dekonstruktion solcher Stereotype befasst, fatal ist. Texte über Rassismus aus dem Englischen in das Deutsche zu übersetzen, stellt Übersetzer*innen immer vor besondere Herausforderungen: Begriffe, die im Englischen mit unterschiedlichen kulturellen Bedeutungen verwoben sind, lassen sich oft schlecht bis gar nicht ins Deutsche übersetzen, ohne dabei etwas von ihrer Bedeutung zu verlieren, oder schlimmer noch in der deutschen Übersetzung sogar rassistisch zu sein.
Die freiberufliche Übersetzerin für englischsprachige afrodiasporische Literatur Mirjam Neunning hat es nun in ihrer überarbeiteten Ausgabe geschafft, das Werk Morrisons so zu übersetzen, dass es auch im Deutschen die Überlegungen Morrisons deutlich macht, ohne dabei rassistische Ausdrücke zu reproduzieren. Wer also Im Dunkeln spielen lesen möchte, sollte auf diese überarbeitete Übersetzung zurückgreifen. Ergänzt wird die Essaysammlung durch ein Nachwort der Autorin, Aktivistin und Publizistin Sharon Dodua Otoo. Während Morrison sich auf die amerikanische Literatur fokussiert, betrachtet Otoo unter anderem die Relevanz von Morrisons Analyse für die deutschsprachige Literatur und bereichert die Ausgabe so um eine weitere Perspektive.
Morrisons Band gibt seinen Leser*innen Analysefähigkeiten an die Hand, um eine afrikanische Präsenz in der Literatur erkennen zu können und regt zur Neubewertung wesentlicher Merkmale literarischer Tradition an. Die Auseinandersetzung damit ist durchaus komplex und verlangt von den Leser*innen eine gewisse Vorkenntnis über verschiedene Diskurse. Nichtsdestotrotz ist es nicht nur für Literaturwissenschaftler*innen ein wichtiger und lesenswerter Text.
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