Facetten von Menschlichkeit

Oleg Serebrian erzählt in „Tango in Czernowitz“ vom Untergang des multikulturellen Buchenlands

Von Ingrid BaltagRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingrid Baltag

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Lied des Meeres“ hieß ein Chanson von José Lucchesi aus dem Repertoire des klassischen argentinischen Tangos, der sich in den späten dreißiger Jahren seinen Weg bis nach Czernowitz, der Hauptstadt der östlichsten Habsburg-Provinz Bukowina (Buchenland), ehemaliges Kronland der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie, gebahnt hatte. Der Tango erlangte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in vielen europäischen Metropolen Beliebtheit. Der Titel von Serebrians neuem Roman ist eine Chiffre für ein modernes Lebensgefühl, für die nostalgische Sehnsucht nach dem Aufbruch, die durch den Beginn des Krieges und der sowjetischen Diktatur ein jähes Ende fand.

So knüpft der rumänische Originaltitel Cântecul mării symbolisch an jenes global verbreitete, kosmopolitische Musikgenre an, das ein melancholisches Sehnen nach der weiten Welt ausdrückt. Es ist ein nostalgischer Titel, denn er erinnert an die sich in Auflösung befindende Multikulturalität Bukowinas von 1944. Die Bukowina, bis 1775 Teil des Moldauischen Fürstentums, blühte in der K. u. K.-Monarchie kulturell und wirtschaftlich auf. Auch der Roman spielt mit dieser etablierten Multiethnizität: Die Figuren sind jüdisch, deutsch, rumänisch, ruthenisch und huzulisch. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Bukowina Rumänien zugeschlagen, doch Rumänisch wurde nie zur Mehrheitssprache. Subtil inszeniert Serebrian die kulturellen und politischen Reibungsflächen anhand der Geschichte eines Ehepaares, in dessen Alltag Menschen aller Ethnien vorkommen und interagieren. Die forcierte aber erfolglose Rumänisierung dieser Periode wird nicht angesprochen, doch spürt man sie im unterschwelligen Konflikt der Ehepartner, der schließlich in eine Katastrophe führt. Um die zentrale Liebesgeschichte zwischen Marta und Filip entsteht kaleidoskopisch ein lebhaftes Bild der Czernowitzer Gesellschaft von 1944. Es markiert die Schwelle zu einer neuen Epoche: Nach einer kurzen rumänischen Herrschaft steht die Nordbukowina vor einer erneuten und diesmal endgültigen Machtübernahme durch die Sowjets.

Der orthodoxe Erzpriester Filip Skawronski, Sohn eines ruthenischen Försters und einer rumänischen Bäuerin, heiratet seine große Liebe, die adlige Marta von Randa. Die Ehe zerbricht an kulturellen Missverständnissen und dem Mangel an Kommunikation zwischen den beiden. Die gemeinsame Leidenschaft für Tangostücke stellt nur noch ein dünnes Band ihrer ehemaligen Liebe dar, und nicht einmal ihr Kind vermag die beiden einander wieder näherzubringen. Die Diskrepanz der beiden Welten, derer sie entstammen, ist zu groß.

Die Freiheit durch Auswanderung erträumt sich die junge Ehefrau Marta im Winter 1944, nicht nur weil ihre aristokratischen Wurzeln und ihre deutsche Herkunft in der machtpolitisch instabilen Region ihre Existenz bedrohen, sondern auch, weil die Ehe ihre jugendliche Kraft und Lebensträume einengt. Von ihrer altmodischen Familie verstoßen, weil sie „unter ihrem Stand“ geheiratet hat, wird sie zunehmend von einer verklärenden Sehnsucht nach ihrer alten Welt erfasst. Ihre Eltern leben in Königsberg und beklagen, dass sich „die Sitten nach dem Zerfall des Kaiserreiches in unglaublicher Art und Weise demokratisiert“ haben. Obwohl ihre gegenseitige Liebe stark ist, kann Marta in der Ehe nicht aufblühen, im Gegenteil. Sie fühlt sich missverstanden, denn die gesellschaftlichen und familiären Bürden verhindern die Kommunikation zwischen Filip und ihr.

Die zunehmend prekäre gesellschaftliche Stellung Martas als Deutsche verschärft sich zusätzlich durch ihre Verwandtschaft: Ihr Bruder dient in der Wehrmacht, einer von Filips Brüdern hingegen in der sowjetischen Armee. Der zweite Bruder Filips befindet sich bereits im Exil und bereitet für Filip und Marta von der Schweiz aus eine Auswanderung nach Lateinamerika vor. Viele Buchenländer retteten sich in der Kriegszeit nach Argentinien und Paraguay, denn sie fürchteten die politische Ordnung der Sowjets, mit der sie bereits schlechte Erfahrungen gemacht hatten.

Die letzten glücklichen Momente des Paares sind wie ein Tanz auf dem Vulkan, in einer Region, die heute mit ihrer komplizierten und wechselvollen Geschichte abermals ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt ist. Czernowitz ist inzwischen dank sowjetischer Misswirtschaft eine heruntergekommene ukrainische Provinzstadt. Das Drama des unglücklichen Ehepaares wird vor dem Hintergrund des letzten Jahres des Zweiten Weltkrieges erzählt, als die Region endgültig in die sowjetische Sphäre gerät.

Die historische Dimension dieses moldauischen Romans wird unter anderem von Arhip, Filips Vater verkörpert,

ein huzulischer Bursche, der auf Deutsch kaum einen Satz richtig bilden konnte, fragte sich damals, warum der liebe Gott diesen Deutschen alles gegeben hatte, und ihnen, also den Huzulen oder den Rumänen in den Nachbardörfern nur das Recht darauf, zu arbeiten und arm zu sein? Das erschien ihm ungerecht.

Czernowitz und die Bukowina waren lediglich zwischen 1940 und 1941 unter sowjetischer Vorherrschaft, danach gehörten sie wieder zu Rumänien, was vor allem für die ehemalige Hausangestellte der Skawronskis, die Jüdin Perla, Unheil bedeutete, denn Juden und Ukrainer waren unter rumänischer Herrschaft Bürger ohne Rechte. In rumänischer faschistischer Regie fand schließlich eines der schlimmsten Pogrome Europas statt: die Vernichtung der Juden durch Vertreibung nach Sibirien und später nach Transnistrien. Die Rolle Perlas ist eines der vielen Beispiele dafür, dass die Dynamiken der Geschichte anschaulich in die Figurenzeichnung übersetzt werden.

Der Roman erzählt von der multiethnischen Gesellschaft und ihren Dynamiken in der Bukowina Ende des Zweiten Weltkrieges und fokussiert vor allem den gewöhnlichen Alltag der Menschen: Amanda Iosif, Iolanta Filiger, Vanda Wolczinski und Marta Skawronski bevölkern das legendäre Kaffeehaus von Alin Fiodorel, der mit dem Eintreffen der Russen ebenfalls das Weite suchen wird. Inzwischen sind die vier Frauen die einzigen Gäste im Lokal, die letzte Reserve echten Kaffees genießend.

Die Spannungen werden episch-realistisch in der Erzählung aufgebaut und Serebrian gelingt es, eine ausgewogene, menschliche Sicht auf Irrungen und Wirrungen ideologischer oder emotionaler Art zu schaffen, eine feine Figurenzeichnung, die nie in Stereotypisierungen abdriftet. Es ist eine angenehme, gewinnbringende Lektüre; die beschriebene Atmosphäre wirkt lebendig und bietet einen Reichtum an realistisch dargestellten Introspektionen. Mancher Charakter ist so authentisch, dass man seine nicht-fiktionale Existenz beschwören könnte, wie die des Dr. Șveț, wahrscheinlich nach einem realen, legendären Czernowitzer Arzt benannt.

Als historischer Roman versucht Tango in Czernowitz nicht, Antagonisten einander gegenüberzustellen; er zeigt die verschieden Facetten von Menschlichkeit auf und verweist auf die Zeit, in der die multikulturelle Stadt noch nicht zum sowjetischen Staat gehörte. Es geht auch um die „Verwandtschaft zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus“ und um die großen nationalen Mythen, die sich in den kleinen Gesten verdichten. „Ich hätte nicht gedacht, dass Europa in unserer Sprache sterben würde.“

Hinzu kommt die philosophische Überlegung, ob der große Kampf im Universum nur vermeintlich zwischen Gut und Böse ausgetragen wird. So behauptet eine der tragenden Figuren:

Aber existiert das Böse denn tatsächlich? Ist es nicht nur eine ‚Dimension‘ des Guten? Was für die einen böse ist, kann für andere gut sein. Was uns jetzt böse scheint, könnte sich irgendwann oder anderswo in gut wandeln. Vielleicht für uns, vielleicht aber für jemand anderes. Eigentlich verharrt die Theologie seit zweitausend Jahren auf einem so offensichtlichen Fehler: Der Rivale des ‚Guten‘ ist nicht das ‚Böse‘. Es ist das ‚Schöne‘. Der Kampf wird ausgefochten zwischen dem ‚Guten‘ und dem ‚Schönen‘. Gott ruft uns hin zum Guten, der Teufel verführt uns zum Schönen. Wie viele Male haben wir alle das ‚Gute‘ dem ‚Schönen‘ vorgezogen!?

Die Übertragung durch Anke Pfeifer ins Deutsche ist elegant und geschmeidig, die zahlreichen erklärenden Fußnoten sind akkurat recherchiert und machen die deutsche Übersetzung zu einer interessanten Ausgabe mit fundierten Fußnoten zu Begriffen und Namen. Nur wenige Tippfehler sind dem letzten Lektorat entgangen.

Titelbild

Oleg Serebrian: Tango in Czernowitz. Roman.
Aus dem Rumänischen übersetzt von Anke Pfeifer.
Morio Verlag, Heidelberg 2022.
403 Seiten , 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783949749018

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