Binge-Eating, häusliche Gewalt, Aufbegehren
In ihrem Erstling „Der berühmte Tiefpunkt“ thematisiert Amaryllis de Gryse kruden Karnismus, tröstendes Essen und eklatanten Pflegenotstand
Von Anne Amend-Söchting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEine Frau liegt mit dem Gesicht nach unten im Kanalwasser. Ein Fischer klopft aufgeregt an das Fenster des Autos, in dem eine junge Frau übernachtet, weil er befürchtet, dass sie ums Leben gekommen sein könnte. So der schwungvolle, leicht irreführende Auftakt zu Der berühmte Tiefpunkt. Dies ist kein Kriminal- oder Detektivroman, sondern die Geschichte der 28jährigen Marieke, die als Ich-Erzählerin auftritt. Ihr Freund wirft sie aus dem Haus, sie mietet ein Auto, das sie fortan mit ihren wenigen Habseligkeiten bewohnt. Am frühen Morgen, lange vor ihrem Dienstbeginn, fährt sie auf den Parkplatz des Seniorenwohnheims Kleeblatt, in dem sie arbeitet. Niemand soll merken, dass sie keine feste Bleibe hat.
Eine von ihren Patient:innen ist Marieke besonders ans Herz gewachsen. Elza, die jeden Tag Besuch von ihrem Ehemann Josef erhält, zählt genauso wenig wie die anderen Senior:innen der Station zu denen, die in den Neubau des Wohnheims umziehen dürfen. Marieke und zwei weitere Fachkräfte versehen ihren Dienst weiter bei ihnen, während sich die Arbeitsbedingungen zusehends verschlechtern: es gibt kein fließendes Wasser mehr und jeden Tag dasselbe Gericht. Nachdem Marieke angesichts dieser Misere in einem tosenden Wutanfall die Kontrolle über sich verloren hat, wird sie vom Dienst suspendiert. Sie kommt in Josefs Gästezimmer unter, kauft genüsslich ein und kocht ein opulentes Mahl.
Die auf nur 256 Seiten verteilten 48 Kapitel präsentieren eine Protagonistin, die sich selbst und ihren Platz im Leben noch nicht gefunden hat. Obwohl sie den Wagen dafür fährt, begibt sie sich nicht auf einen Roadtrip, sondern bleibt im Kreisverkehr der Kleinstadt stecken. Eine solche Dauerschleife kommt einem existenziellen Hamsterrad gleich, in dem es der Protagonistin dennoch gelingt, ihren Radius kontinuierlich in eine Panoramaschau ihres Lebens hinein zu erweitern. Mit ihrer Protagonistin generiert de Gryse auf diese Weise ein Potpourri, ein Sammelbecken von Fragmenten, das nicht a priori durch psychologische Tiefenschau punktet, sondern mehr durch eine Reihe von Themen, die sich zu einer solchen addieren und in dieser Kombination individualisiert werden.
In diesem Reigen tritt als Erstes Familie hervor: Während Marieke sich tagsüber hingebungsvoll um die pflegebedürftigen Bewohner:innen der Demenzstation kümmert, fährt sie nach Dienstschluss am Haus ihres Vaters vorbei, wo dieser mit seiner zweiten Ehefrau lebt. Mariekes Eltern wurden kurz vor ihrem achten Geburtstag geschieden. Danach bleibt sie allein mit der depressiven Mutter, die in den warmen Monaten tagsüber „Sommerschlaf“ hält. Erst nachts wird sie wach und wandelt unruhig durch das Haus. Der Vater hat eine Leerstelle hinterlassen, eine rätselhafte und faszinierende Absenz, die Marieke mit Inhalt füllen möchte. Doch als sich ihr die Gelegenheit dazu bietet, lässt sie sich nicht darauf ein. Obschon die Beziehung zur Mutter und zu den drei Schwestern grundsätzlich gut ist, bleibt sie oberflächlich und ritualisiert – alle senden ihr zum Geburtstag jeweils eine Karte und einen 50Euro-Schein. Anstatt bei einer von ihnen Unterschlupf zu suchen, nimmt Marieke lieber Obdachlosigkeit in Kauf.
Gerade ist sie zudem aus einer dependenten Beziehung herausgekickt worden, was ihr insofern zupasskommt, als sie schon lange daraus entfliehen wollte – weg von Blok, ihrem Lebensgefährten, dessen Haus auch ihres sein sollte, in dem sie aber nie heimisch wurde. „Alles in diesem Haus war er“ bzw. eine Mischung aus ihm und seiner Mutter. Nur nachts überfiel sie regelmäßig die Erkenntnis, dass sie sich „an ihn klammert“. Ihn von sich aus zu verlassen, war keine Option, denn nach ihm – da war sie sich sicher – würde „gar nichts“ kommen.
Eng mit Familie verwoben sind die Themen Essen und Körpergewicht: Blok kontrolliert, was sie isst, setzt damit den Druck aus der Ursprungsfamilie fort, vermittelte man ihr doch bereits in ihrer Kindheit, dass sie zu dick sei und Gewicht verlieren müsse. Mit Binge Eating stopft sie ihr emotionales Vakuum: „Ich habe nichts gefühlt. Dann zu den Keksen gegriffen“. Pralinen sind ihr Soulfood, das den karnivoren Mahlzeiten, die Blok jeden Abend aus der elterlichen Metzgerei – von „Mama“ – mitbringt, diametral entgegengesetzt ist. Sinnliches Essen, in psychosomatischer Ganzheit sich einer Sinfonie des Genusses hinzugeben, offenbart sich ihr, als sie bei Josef frühstückt und nach ihrer Suspendierung beginnt, in seiner Küche zu kochen. Ruhe offenbart sich ihr in seinem Garten mit den Hühnern und in seinem bescheidenen Haus, in dem Elzas Spuren überall greifbar sind.
In ihrer alten Chimärenwelt residierte vor allem die Familie Blok, irgendwo zwischen Mensch und Tier, zwischen Reifizierung und Bestialisierung. Papa Bloks Bauch kommt „als Erstes die Treppe runter“, Blok umweht immer ein „Mief aus Fleisch und Fett“ und alle Familienmitglieder assimilieren sich mehr und mehr an die Tiere, die sie verkaufen: „Stiernacken, volle, breite Wangen, die bis unter den Unterkiefer hingen, Schweißperlen auf der Stirn, die aussehen wie Schmalz“. Kannibalistisch wirkt es, wenn Blok vor dem Liebesakt Mariekes Körperteile wie Fleischstücke kommentiert, so als ob er „Fettgehalt und Marktwert“ prüfe: „Bauchspeck, Entrecôte, Lendenfilet“.
Aus all diesen Erfahrungen erwächst Mariekes Verzweiflung, ihre Orientierungslosigkeit, ihr Mangel an intraindividueller Klarheit und Zentrierung. Mitunter ist sie so hilflos, wie sie als Kind war, als ihre Mutter oft weinte. Sie bleibt immerhin nicht in dieser Retrospektive stecken, sondern konstatiert – quasi prospektiv – eine Annäherung an ihre Klient:innen: „Wir ähneln uns, die Senioren und ich, wir leben in einer unbekannten Welt. Wir können nichts anfangen mit den Bildern aus der Vergangenheit“.
In der Gemengelage der Ego-States und/oder Rollen – Freundin, Tochter, Schwester, Junge, Alte, Dicke – zehrt sich die Protagonistin auf, was sich am eindrücklichsten in ihrer beruflichen Tätigkeit als Pflegefachkraft konkretisiert: Mit all ihrer Sensibilität und ihrer Empathie engagiert sie sich für die Hilfsbedürftigen. Sie lässt sich akribisch beobachtend auf ihre Welt ein und spiegelt damit die Technik ihrer Autorin: eine vorzügliche realistische Abbildung.
Pflege wird entlarvt als unbarmherzig getaktete Rhythmik, abgewickelt wie an einem Fließband, an dem die Tage „wie im dichten Nebel vorbeihetzen“ und die Erinnerungen der Senior:innen „zusammenschrumpfen, bis sie unter der Schädeldecke verschwinden“. Mit aller Kraft wehrt Marieke sich sowohl gegen die Frustration als auch gegen die Versuchung, sich nicht mehr emotional zu verausgaben, letztendlich gegen die Versuchung, ihre Klient:innen zu objektifizieren. Vielmehr intensiviert sich ihr Zorn, als der Neubau, dem sie von Anfang an skeptisch gegenüberstand, bezogen werden kann. Ihr Team löse sich auf, Geräte ersetzten menschliche Hände und „jegliche Wärme“ sei „thermostatgesteuert“. Im Altbau zurückbleiben zu müssen, ist bitter, weil jede:r die gnadenlose Destruktion der alten Einrichtung miterleben muss, wenn etwa Pflegebetten am Fenster vorbeifliegen. Zwar sind stereotype Mahlzeiten seit jeher an der Tagesordnung, doch die Situation spitzt sich zu, als viele Mittage hintereinander mikrowellenzubereitete Wurst, Apfelmus und Kartoffeln serviert werden. Die Erzählerin fragt sich, ob die Senior:innen noch erkennen, „dass diese geschmacksfreien, glasig-mehligen Klötze Kartoffeln sind? […] Wissen sie noch, dass sich Liebe und Sorgfalt anders anfühlen im Mund?“.
Thematische Fülle und Prägnanz gleichermaßen erwachsen aus einem formalen Procedere, das zwischen den Zeitstufen alterniert. In ihrer diskontinuierlichen Narration lässt de Gryse ihre Protagonistin assoziativ vorgehen, immer so, dass man der erzählten Zeit mit ihrer Vielzahl von Rückblenden gut folgen kann und sich Zusammenhänge mühelos erschließen. Die Sätze sind oft elliptisch, voller Anaphern und in parataktischer Reihung, was sich in der Wiedergabe von Dialogen besonders akzentuiert. Eine dramatische Unmittelbarkeit doppelt hervorragend die Irritation der Protagonistin.
Dieser kleine Kunstgriff erreicht seine Klimax im Gespräch mit dem Vater, als Marieke und er im Duett von „Und er“ – „Und ich“ aneinander vorbeireden: Er ringt um ein Gespräch über das Verhältnis zwischen Vater und Tochter, sie bleibt hartnäckig beim Wundmanagement, womit sie die Pflege der Schwiegermutter anspricht. So offeriert der Dialog metaphorische Tiefendimension – die Beziehung als Wunde, die aber möglicherweise gute Fortschritte macht.
Weitere Bilder im Roman werden aus dem Bereich der Nahrung bezogen. Sie konkretisieren („klebrige Zugfahrt“, „Zartbitteres Bedauern. Und Vollmilchbedauern. Und Nugat- und Marzipanbedauern“, Apfelmustage“) oder abstrahieren („lauwarme Teller voll Kummer“). Hinzu treten Vergleiche, meist von Menschen mit Tieren: Gäste, die „wie die Ratten über unsere Küche herfallen würden“, oder, in krasser Zuspitzung des Komparativen, als die Protagonistin sich an die „einzigen Haustiere“, die sie hatte – Kaulquappen – erinnert: „Sie zuckten nicht. Sie lagen einfach nur still da, und ich war auch so. All die Jahre. Ausgekippt, nie gezuckt“. Solche lakonischen Sätze loten Untiefen aus, in Form und Sprache spiegeln sie perfekt die Desorganisation einer Heldin, die ihre Selbstdarstellung oft mit einer kräftigen Prise Ironie würzt.
Marieke aus Flandern repräsentiert bei de Gryse, in einer Art „Post-Coming-of-Age-Roman“, weibliche Twens des 21. Jahrhunderts, die mit überkommenen Rollenklischees – schlank und schön, dem Mann gehorchen, nicht aufbegehren – zu kämpfen haben, diese aber nicht nur überwinden, sondern ihnen facettenreiche Perspektiven entgegensetzen wollen. Amaryllis de Gryse hat ein rundum lesenswertes und vielversprechendes Debut vorgelegt, in dem sie ein breites Spektrum virulenter und daueraktueller Themen auffächert. Auf weitere Romane darf man gespannt sein.
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