Ungewohnte Perspektiven
Dirk Niefangers Korrekturen am überkommenen Lessingbild in „Lessing divers“
Von Ulrich Klappstein
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer vierundzwanzigjährige Gotthold Ephraim Lessing schrieb in einem Sinngedicht über die Oden des damaligen Modedichters Klopstock die berühmten Zeilen „Wer wird nicht einen Klopstock loben? | Doch wird ihn jeder lesen?–Nein. | Wir wollen weniger erhoben, | Und fleißiger gelesen sein.“ Dies gilt heute auch für Lessings Werke. Wer Lessing verstehen will, muss ihn genau lesen. Seine Gedichte, Fabeln und vor allem die Dramen sind im Schulkanon fest verankert und prägen das Bild des deutschen Aufklärers. Lessing gilt als ein mutiger Mann, der an die Vernunft im Menschen und an seine Mitleidsfähigkeit glaubte.
Dirk Niefanger, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und seit 2014 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption, möchte das gängige Lessingbild problematisieren und ergänzen. Er stellte fest, dass vor allem Lessings Dichtungen in ihrer Breite nicht mehr oder zu wenig gelesen werden. Dies gilt seiner Einschätzung nach auch für die recht „voraussetzungsstarken“ ideengeschichtlichen und biografischen Monografien, die sich derzeit auf dem Buchmarkt befinden. Dem möchte Niefanger eine Lektüre entgegensetzen, die auch Texte, die in der Forschung selten oder gar nicht vorkommen, in den Fokus rückt. Niefangers These ist, dass heute ein eher harmonisierendes Bild des Autors gezeichnet wird, das dessen „diverse“ Ansätze übersieht und das Vielfältige in seinen Werken schlicht ausklammert. Er regt eine kulturgeschichtliche Perspektive an, die sich dazu eignet, selbst heute aktuelle sozialpolitische Fragestellungen auf die Zeit der Aufklärung zu übertragen. Davon könnten nicht nur Forschung und Lehre profitieren, sondern auch die Theaterpraxis.
Das beklagte Defizit dürfte auch dadurch bedingt sein, dass viele von Lessings Texten, die einen solchen Perspektivwechsel gestatten, in den gängigen Werkausgaben nicht enthalten sind (Niefanger entnimmt seine Beispiele der Frankfurter Ausgabe, die von Wolfgang Barner u. a. 1985–2003 herausgegeben wurde). Als Einstiegsbeispiel dient ihm die humoristische Verserzählung Die Brille, 1767 in der „Hamburgischen Neuen Zeitung“ veröffentlicht, in der Lessing eine „mehrdimensionale Differenz“ eines sozial ungleichen Paares dargestellt hat. Die Forschung habe an diesem Text gleich eine vierfache Markierung nicht hinreichend berücksichtigt, und zwar die nach Geschlecht, Stand, Vermögen und Alter. Niefanger betrachtet daran anschließend – im ersten Kapitel „Soziale Milieus“ – Lessings Jugendkomödie Der junge Gelehrte, und zwar als ein Beispiel für die von Lessing enttarnte aufkommende akademische Scharlatanerie, die vor ihm schon der Hallenser Universitätsgelehrte Christian Thomasius (1655–1728) angeprangert hatte.
Auch die weiteren Lektüren dieses Kapitels zeigen, dass Lessings Figurengestaltung in den Prosatexten, besonders aber in den Dramen, als divers und differenzierend gedacht werden muss. Dies gilt nach Niefanger besonders für das bisher als vermeintlich eindeutig zu interpretierende Personal in Die Juden, aber auch in den Stücken Nathan der Weise oder Emilia Galotti. Lessing gelinge es mittels poetischer Techniken, bisher nahe gelegte, einfache moralische Schlussfolgerungen zu relativieren und zu unterminieren. Dazu zählt lt. Niefanger vor allem eine zum literarischen Programm erhobene Sichtbarmachung von Diversität auf unterschiedlichsten Ebenen. Neben der Polyperspektivik divers gestalteter Figuren sei es auch Lessings Blick auf Gender-Formationen sowie auf Ethnien und Religionen, wie Niefanger herausarbeitet. Zu lesen ist bei Lessing von gleichgeschlechtlicher Liebe, Misogynie, zeittypischem Rassismus und mehr. Herausgefiltert werden bei Niefanger neue Sichtweisen auf bekannte Topoi wie das vom Aufklärer Lessing eingeforderte „Selbstdenken“ oder das „Mitfühlen“ des (Lese)Publikums.
Der Umgang mit Lessings Werk werde bisher völlig zu Recht durch Schlüsselbegriffe wie Toleranz und Mitleid bestimmt, die gesellschaftlichen Konflikte und Verhältnisse, die von Lessing kritisch thematisiert worden sind, würden aber allzu oft verdeckt. „Toleranz kann nur wirken, wo Diversität erkannt wird“, so Niefanger. Nicht ausklammern dürfe man allerdings, dass auch bei Lessing die Kenntnis von Diversität „nicht unbedingt immer zu einem respektvollen Umgang“ geführt habe. Niefanger zeigt dies an der Herabsetzung von People of Color in Minna von Barnhelm, an einigen zotenhaften Ausfällen in der Verserzählung Nix Bodenstrohm, an der Beschreibung der Khoikhoi im Laokoon oder am Beispiel der „übergriffigen“ Attitüden in Lessings anakreontischer Lyrik. Dies müsse selbstverständlich „unsere Analyse, Kritik und Stellungnahme ganz im Sinne Lessings“ herausfordern, so Niefanger abschließend.
Auch deshalb lohnt die Lektüre dieses Buchs, die zu einer Neubetrachtung von einem der wichtigsten Denker der deutschen Aufklärung führen könnte.
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