Ausgrenzung und struktureller Rassismus
Shady Lewis‘ verarbeitet im Roman „Auf dem Nullmeridian“ eigene Erfahrungen als aus Kairo emigrierter koptischer Christ in London zu einer bitterbösen Gesellschaftskritik
Von Monika Grosche
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFacettenreich, ironisch und mit einer guten Portion dunkelstem Humor lässt Lewis die Lesenden ein Stück weit nachempfinden, was es heißt, ganz allein in ein fremdes Land auszuwandern und dort mit einer kaum kaschierten rassistischen Grundhaltung der Gesellschaft konfrontiert zu sein. Dabei hat es sein Protagonist, der ebenso wie der Autor selbst ein koptischer Christ aus Ägypten ist, im Vergleich relativ gut – zumindest in den Augen der Zurückgebliebenen. So etwa macht ein Freund daheim in Kairo seinen „Erfolg“ bereits daran fest, dass er nicht nur eine Stelle in einer britischen Behörde ergattert hat, sondern dort sogar über einen eigenen Stuhl und Tisch verfügt, die er mit niemandem teilen muss.
Dass das Leben in der Fremde dennoch reichlich trostlos ist, erfahren die Lesenden bereits auf den ersten Seiten. Der Alltag in der Wohnraumbehörde ist dröge, sinnentleert und alles andere als an den Menschen orientiert, die sich dorthin wenden, um irgendwie an Wohnraum zu gelangen, den es effektiv im neoliberalisierten England nicht gibt. So bleibt es den Behördenmitarbeitenden nur, die Verzweiflung und die Ausweglosigkeit in dem von ihnen betreuten „Problemviertel“ zu verwalten. Emotional abgestumpft und resigniert, regiert in den Büros „Dienst nach Vorschrift“, die Hilfsbedürftigen verkommen zu Zahlenreihen und Fallakten, die man als gegeben hinnimmt.
Das Leben des Protagonisten sieht wenig besser aus als das seiner „Klienten“. Zwar hat er seinen Job und eine kleine Wohnung, doch kaum soziale Kontakte, nachdem ihn seine Lebensgefährtin sitzenließ. Mit niemandem pflegt er nähere Freundschaften oder Bekanntschaften, zumal auch die KollegInnen bestenfalls als „schräg“ zu bezeichnen sind. Lange Zeit hatte er darum gerungen, als Person wahrgenommen zu werden.
Doch ebenso wie in Ägypten, wo die einheimische Bevölkerung Ressentiments u. a. gegenüber Christen und Flüchtlingen aus Palästina und anderen Ländern hegt, trifft er in England auf Menschen, die an ihren Klischees und Stereotypen festhalten und ihn in bestimmte Kategorien pressen: Für die einen ist er der Moslem, dem sie Halal-Pizza aufdrängen, von anderen wird er als „Paki“ beschimpft und verprügelt, und wiederum andere traktieren ihn mit Vorträgen über die Pharaonen, von denen er schlicht keine Ahnung hat.
So dümpelt das Leben freudlos vor sich hin, als ein plötzlicher Telefonanruf seines Freundes eine unerwartete Wendung herbeiführt. Dieser hatte in Kairo eine verzweifelte syrische Flüchtlingsfamilie kennengelernt. Sie leiden dort ebenso unter Ausgrenzung und Misstrauen wie der ägyptische Protagonist in London. So hatte Ghiyath, einer ihrer Söhne, auf der Suche nach einer menschenwürdigen Zukunft große Risiken auf sich genommen, um in die Festung Europa zu gelangen. Nach geradezu unglaublichen Irrwegen war ihm die risikoreiche Flucht am Ende gelungen – nur um dann in London einfach so im Schlaf zu sterben. Nach anfänglichem Zögern willigt der Protagonist ein, der Familie beizustehen, damit Ghiyath eine würdige Beerdigung bekommt. Doch der Plan, seinen Leichnam zurückzuführen, scheitert, sodass am Ende nur die Bestattung in London bleibt.
Mit Raffinesse und Scharfsinn inszeniert Shady Lewis eine entlarvende Geschichte um Menschen, denen mitleidlose Migrationspolitik, struktureller Rassismus und Behördenwillkür die Ankunft und die Integration in einer anderen Gesellschaft unmöglich machen. Messerscharf führt er so den Lesenden die Absurdität vor Augen, mit denen unterschiedliche Gesellschaften nach den Mustern der Macht bestimmen, wer dazugehören darf und wer nicht. Der Autor zeichnet ein drastisches, aber realistisches Bild, das vor allem von den Alltagserlebnissen des Ich-Erzählers geprägt ist, die dieser in sarkastischen und pointierten Bemerkungen kommentiert.
Dabei gelingt es Lewis mit seiner prägnanten, leichtfüßigen Ironie, sowohl die Geschichte um das Begräbnis als auch die Zweithandlung um eine unbequeme „Klientin“ des Wohnungsamtes, deren plötzlicher Tod viel Ärger bedeuten könnte, mit Einblicken in das frühere Leben des Protagonisten kunstvoll zu verweben. So folgt man ihm gerne auf seinen eingestreuten Episoden über den Nullmeridian als Ausdruck westlicher Machtpolitik, den disziplinierenden Aspekt viktorianischer Architektur oder die Demenz der ägyptischen Oma, ohne zu bemerken, dass die Handlung eher träge vorankommt und inhaltliche Fülle statt eines stringenten Erzählflusses herrscht. Gefesselt von der Vielschichtigkeit der Ein- und Ansichten des Protagonisten sorgt der kluge, sensible Blick des Romans auf Menschen und Ereignisse für ein großes Lesevergnügen, auch wenn der Autor am Ende keinen Ausweg oder ein Happy End liefert. – Wie könnte er auch?
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