Recht sprechen

Emmanuel Carrère („V13“) und Kathrin Röggla („Laufendes Verfahren“) nähern sich literarisch zwei Terrorprozessen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 19. August 1965 erging im Frankfurter Auschwitz-Prozess ein Urteil gegen 20 SS-Männer wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord im KZ Auschwitz. Peter Weiss verfolgte den Prozess teils vor Ort, teils aus den Medien, um ihn in seinem Theaterstück Die Ermittlung zu verarbeiten. In einem Interview mit Jean Tailleur erklärte er 1966 seine Gründe dafür: „Vor allem habe ich Die Ermittlung für mich selbst geschrieben, weil ich die Konzentrationslager und wie es dazu kommen konnte, verstehen wollte.“ Und im Essay Meine Ortschaft hatte er schon 1964 erkennen lassen, dass er, Kind eines jüdischen Vaters, selbst unter den Opfern hätte sein können, wären die Eltern nicht rechtzeitig nach Schweden emigriert. Sechzig Jahre später haben sich Kathrin Röggla und Emmanuel Carrère daran gemacht, zwei Monsterprozesse der jüngsten Vergangenheit literarisch zu verarbeiten.

Das Verstehen-Wollen und die eigene Betroffenheit sind Impulse, die wie Weiss auch den Autor Emmanuel Carrère zur Gerichtsreportage V13 (Vendredi 13 / Freitag, der Dreizehnte) angeregt haben. Wie leicht hätte er selbst unter den Menschen sein können, die an jenem milden 13. November 2015 auf der Terrasse der Bar Le Carillon etwas tranken oder im Konzertlokal Bataclan dem Konzert der Eagles of Death Metal zuhörten. Unter massivem Polizeischutz begann am 8. September 2021 in Paris der Prozess gegen die Attentäter, die an jenem Abend wahllos 130 Menschen ermordeten und sich danach selbst in die Luft sprengten. Carrère nahm für den Nouvel Observateur am Prozess teil und stellte sich seinem „maßlosen Anspruch, nämlich innerhalb von neun Monaten in den Blickwinkeln und Perspektiven aller Akteure darzulegen, was in dieser Nacht geschah“. Das hieß auch für ihn, während neun Monaten fünf Mal die Woche das Gerichtsgebäude zu betreten, erschreckenden Aussagen zuzuhören und wöchentlich darüber zu berichten. Eine immense Anstrengung, die sich für den Autor lohnte, wie er schreibt, weil er Zeuge einer Vielfalt von Stimmen geworden sei, die „wahr klingen“. Dabei stellte er eine markante Veränderung fest: Ziehen in der Regel die Täter das Interesse und die Faszination auf sich, weil es in einem Prozess um die Beweggründe für ihre Tat geht, rückten hier eindeutig die Opfer ins Zentrum: „Die fünf Wochen Zeugenaussagen der Nebenkläger haben uns erschüttert und am Boden zerstört“.

In seiner Gerichtsreportage verfolgt Carrère den Prozess chronologisch, von der Aufnahme der Personendaten über die Zeugenaussagen und die Expertenmeinungen bis zur Befragung der Täter, die schließlich im Juli 2021 zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Carrère berichtet nüchtern, anschaulich und schneidend präzise bis ins kleinste Detail, ganz besonders bei den grässlichen Schilderungen aus dem Bataclan. Dazwischen bekundet er immer wieder sein persönliches Erschrecken, stellt eigene Fragen zum Prozess und zum damaligen Geschehen. Er erwähnt auch die Gespräche, die er mit Beobachtern, Anwältinnen und Opfern in den Pausen oder am Ende der Verhandlungstage führte und wie er mit einzelnen von ihnen Freundschaft schloss. Unter ihnen sticht Nadia Mondeguer heraus, eine beeindruckende Frau, deren Tochter von den Dschihadisten erschossen wurde.

Carrères V13 erzählt von einem blindwütigen, sinnlosen Gewaltakt. Die beklemmende Wirkung, die vom Buch ausgeht, ist der Effekt einer Umkehr der üblichen Perspektive. Erfährt die Öffentlichkeit von einer Ungeheuerlichkeit wie den Pariser Attentaten, geht sogleich die Frage um: Kennt wer jemanden, der oder die persönlich betroffen ist? In Carrères Reportage dagegen gibt es keine Eventualität mehr und keine Entlastung. Wer vor Gericht aussagt, leidet in jedem Fall an den Folgen der Terrorattacke. Der Prozess fördert so eine geballte, nicht zu verdrängende Erfahrung dessen an den Tag, was 2015 im Bataclan oder im Le Carillon geschah. Und dennoch sieht Carrère immer wieder auch Lichtblicke. Die Opfer, die vor Gericht ihre Erlebnisse schildern, sind für ihn Helden „wegen des Mutes, den sie aufbringen mussten, um sich neu zu erfinden, wegen ihrer Art, mit dieser Erfahrung umzugehen“. Dabei vergisst er auch jene Opfer nicht, die äußerlich vielleicht unversehrt blieben, innerlich aber nicht mehr vom erlebten Horror loskamen, wie die „grazile und traurige“ Marylin oder der fragile Guillaume, der zwei Jahre nach den Terrorattacken durch Selbstmord deren 131. Opfer wurde. Auch der Gedanke an Rache erhält bei Carrère Raum; er wischt ihn nicht hinweg, sondern hält ihn für ebenso legitim wie Vergebung. V13 beeindruckt dergestalt, weil das Buch im Schrecklichen immer auch Trost bereithält: Es erzählt von Solidarität, Selbstlosigkeit und Treue, mit der Betroffene das Grauen bewältigt haben.

Zwei Jahre zuvor, im Mai 2013, begann vor dem Münchner Oberlandesgericht der insgesamt fünf Jahre dauernde NSU-Prozess gegen eine Neonazi-Terrorgruppe, deren Mitglieder des 10-fachen Mordes sowie der Raubüberfälle, Anschläge, Mordversuche und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt waren. Lange Zeit hatten die Ermittlungsbehörden die Täter im türkischen Milieu gesucht, ohne je Spuren zu verfolgen, die auf Neonazis als Urheber hingewiesen hätten. Dieses skandalöse Versagen legte sich wie ein Schatten über den Prozess, der bei den Angehörigen der Opfer im Endeffekt die große Hoffnung auf Aufklärung enttäuschte. Dafür verantwortlich war, nebst zahlreichen Ungereimtheiten, in erster Linie die Prozessführung, die ein grob unsensibles Verhalten gegenüber den Klagenden an den Tag legte. „Vor allem die Beschreibung der Mordopfer im Urteil ist für die Anwälte so, als hätten die Richter durch die Augen der Täter gesehen“, bilanzierte die Gerichtsreporterin Annette Ramelsberger in der Süddeutschen Zeitung. Der NSU-Prozess war kein Ruhmesblatt für die deutsche Rechtsprechung, Peter Weiss hätte darin wohl unumwunden Klassenjustiz geortet.

Diese Ungereimtheiten und Entgleisungen, vor allem aber die daraus resultierende Verwirrung und Wut über juristische Winkelzüge und politische Verdunkelung hat Kathrin Röggla in ihrem Buch Laufendes Verfahren zu verarbeiten versucht. Im Untertitel ist es als Roman etikettiert. Röggla hat speziell interessiert, wie sich dieser Prozess politisch einordnen lasse, wie es ihre Erzählerfigur ausdrückt: „Wir wollen einfach sehen, was in diesem Land geschieht, und wo kann man es deutlicher sehen als in den Gerichtsfällen dieses Landes, vor allem in diesem historischen Prozess“. Sie verfolgt dabei eine andere Strategie als Carrère. Während unten im Saal der Prozess abläuft, sitzt ein erzählendes Wir oben auf der Tribüne und verfolgt in mehrerer Hinsicht distanziert das unten ablaufende „Volkstheater mit Leitzordnern“. Volkes Stimme, neben dem „Wir“ die Omavonrechts, der Bloggerklaus, der O-Ton-Jurist, der Gerichtsopa oder die Vornamenyildiz, wohnt den Verhandlungen regelmäßig bei, kommentiert sie wild durcheinander und erzeugt so mehr Durcheinander als Klarheit und Empathie. Die prozeduralen Einzelheiten werden dabei nur punktuell gestreift und aus dem großen Zusammenhang gelöst, alle am Prozess Beteiligten bleiben namenlos. Erst in der Danksagung und somit außerhalb des Prozessberichts werden die 10 Mordopfer mit Namen erwähnt und gewürdigt.

Kathrin Röggla geht es spürbar nicht um subtile juristische Klärung. Wo sich Carrère ganz auf die Befragungen, Berichte und Zeugenaussagen einlässt, baut sie in ihrem Roman ein tiefes Unbehagen auf, das vielleicht nicht die Legitimität des Prozesses in Frage stellt, sich aber von dessen Ablauf entschieden desillusioniert abwendet. „Nichts verstanden zu haben ist eine altbekannte behördliche Strategie“, kommentiert das erzählende Wir und mahnt damit die mangelnde Fairness innerhalb des Prozesses an. Im Kontrast zu Carrère, der mit Nachdruck darauf beharrt, dass die Angeklagten eine gute Verteidigung erhalten, kommentiert Röggla diesen Sachverhalt mit spöttischer Ironie: „Jeder muss vertreten sein, schon aus rechtsstaatlichen Prinzipien, für die wir doch alle sind, oder?“ Alle diese Zeichen signalisieren eine grundlegende Distanz zwischen Beobachterin und Gerichtsprozess, der, so an anderer Stelle, nur „Sackgassen“ und Leerstellen produziere: „Auch meldet sich keiner zu Wort mit dem Erstaunen, wie man alleine oder zu zweit eine 10′000er Liste erstellen kann“ von Personen, die zu eliminieren wären. Dieses Erstaunen und der wachsende Unmut fließen spürbar in Laufendes Verfahren ein und bestimmen die Tonalität des Romans. „Sie haben wie Bienen gearbeitet, aber keinen Honig produziert“, stellt ihm die Autorin ein Zitat von Ayse Yozgat, der Mutter des ermordeten Halit Yozgat, voran. Das Motto ist nicht zufällig gewählt, denn den Täter-Eltern werde mehr Aufmerksamkeit zuteil als den Opfer-Eltern, so das erzählende Wir, welche „nur vor Rätseln stehen bleiben“. Die Empathie, die Röggla für letztere bekundet, bleibt zwischen die Zeilen verbannt, als wollte sie die Opfer gar nicht in dieses Techtelmechtel unter Juristen, Geheimdienstlern, Verwaltungsbeamten und Neonazis verwickeln. Dennoch verrät ihr Roman immer wieder auch gespenstische Seiten, etwa wenn sich Jungs mit tätowierten Nazi-Insignien auf der Besuchertribüne breit machen und mit schlechten Witzen und Gelächter das Prozessgeschehen verfolgen.

„Wie könnte dies alles geschildert werden“, fragt sich der Ich-Erzähler in Peter Weiss‘ Ästhetik des Widerstands angesichts der sich anhäufenden Komplexität in Europa vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs. Und weiter: „Wie wäre dies, was wir durchlebten, so darzulegen, fragte ich mich, dass wir uns drin erkennen könnten. Die Form dafür würde monströs sein, würde Schwindel wecken.“ Die beiden Prozesse, die Kathrin Röggla und Emmanuel Carrère dokumentieren, bewegen sich in anderen Kontexten, die Frage nach der Darstellbarkeit aber bleibt dabei dieselbe. Röggla und Carrère haben je unterschiedliche Erzählstrategien gewählt, um bereits in der Form ihr Verhältnis zum jeweiligen Prozess auszudrücken. Carrère bekräftigt mehrfach, dass er den „Bataclan-Prozess“ für vorbildlich hält und sowohl das Richterkollegium wie die Staatsanwaltschaft für ihre souveräne Prozessführung lobt. Nadia Mondeguer ermahnte in ihrer Aussage das Gericht: „Machen Sie Ihren Job. Machen Sie ihn gut. Das meine ich ernst.“ Für Carrère erfüllte sich dies.

Demgegenüber signalisiert Röggla in ihrer „Berichterstattung“ eine tiefgreifende skeptische Distanz zu einem Prozess, der seinerseits heftigste Kritik hervorgerufen hat. Er sei ein „Mahnmal des Versagens des Rechtsstaats“, griffen die Opferanwälte das Gericht scharf an. Mit ihrer dekonstruierenden, abstrahierenden Erzählstrategie drückt Röggla ihre tiefe Enttäuschung aus und das Erschrecken über eine Justiz, die eher um Verdunkelung als um Gerechtigkeit bemüht war. Sie lastet dies nicht allein der Prozessführung an, sondern vermutet dahinter ein grundsätzliches Versagen der Behörden im Umgang mit der rechtsradikalen Szene. So schwierig der NSU-Prozess war, so vertrackt fällt der „dokumentierende“ Roman darüber aus.

Während Carrère für seine Gerichtsreportage, die durch ihre immense Wucht an Menschlichkeit die Herzen bewegt, mit Recht großes Lob zuteil wurde, hat Kathrin Rögglas Buch viel Kritik erhalten. Ein Scheitern an einer „eitlen Ästhetik“ hält ihr Paul Jandl in der NZZ vor. Das ist zu einfach geurteilt, die Kritik verkennt, dass Röggla bewusst eine empathische Lesart behindert, damit die Lesenden den prozessualen Missstand bei der Lektüre als Behinderung förmlich erfahren. „Sprache ist begrenzt, immer schon vermint“, heißt es bei ihr einmal. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass ihre widerständig dekonstruierende Aufarbeitung des NSU-Prozesses zwar analytisch anregt, aber emotional weit weniger berührt als die erschütternde Dokumentation von Emmanuel Carrère.

Titelbild

Kathrin Röggla: Laufendes Verfahren.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2023.
208 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103971552

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Emmanuel Carrère: V13. Die Terroranschläge in Paris.
Aus dem Französischen von Claudia Hamm.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023.
275 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783751809429

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch