Top und Flop zugleich
Mirko Bonné erzählt in „Alle ungezählten Sterne“ von einem todgeweihten Pensionär, in dessen Restleben mit Wucht eine eigenwillige Autonome tritt und alles aufmischt
Von Karsten Herrmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit 70 Jahren bekommt Mirko Bonnés Protagonist Dr. Romik von seinem Arzt die Nachricht, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hat. „Etwas Unerhörtes war mir zugestoßen“ denkt der ehemalige oberste Hamburger Brückenkomissar und muss sich eingestehen: „Das Gegenteil des Endes ist keineswegs der Anfang, auch wenn es so scheint“.
In einer der folgenden Nächte, in der Dr. Romik auf dem zur Hoheluftbrücke gelegenen Balkon seiner Wohnung die Nacht verbringt, kommt es zu einer schicksalhaften Begegnung: Er sieht, wie eine Gruppe Autonomer eine Reihe von „Bonzenkarren“ abzufackeln versucht, wobei sich eine der Täterinnen verletzt und sich in seinen Hauseingang flüchtet. Er gewährt ihr Unterschlupf in seiner Wohnung und lernt so Hollie Magenta kennen – ein vom Kampf für das Gute und Gerechte beseeltes Energiebündel, das jede vermeintliche Gewissheit von Dr. Romik spöttisch anzweifelt. Sie sucht nach einem besseren, sinnerfüllten Leben abseits von Turbokapitalismus und Umweltzerstörung und sieht die Zeit für Verhandlungen abgelaufen. Was aus ihrer Sicht jetzt zählt, ist die (gewaltvolle) Aktion. Angesichts der Träume und Utopien von Hollie Magenta muss sich Dr. Romik eingestehen: „Bevor ich Hollie traf, dachte ich nie darüber nach, ob und warum mein Leben gescheitert sein könnte.“ Nun lässt er sein Leben Revue passieren, die Trennung von seiner Frau, den Kontaktabbruch zu seiner Tochter, die verpasste Liebesbeziehung zu seiner langjährigen Assistentin. Und irgendwann in der erzählten Chronik seines Lebens erkennt Dr. Romik: „Womöglich lebt man überhaupt nur so lange, wie man erzählt.“
Mit dem rationalen und in den Routinen seines Lebens gefangenen Dr. Romik und der impulsiven quirligen Hollie Magenta prallen zwei Universen von Denken und Sprechen aufeinander. Höchst unterhaltsam fühlt sich Mirko Bonné dabei in die anglifizierte, comicartige Jugendsprache ein und kontrastiert sie mit Dr. Romiks bedächtiger, leicht angestaubter Redeweise. Seine Prosa ist dabei äußerst präzise, bildstark und philosophisch aufgeladen sowie mit aktueller Wirklichkeit von Corona bis zum Ukrainekrieg und der Umweltzerstörung getränkt. Nicht zuletzt ist der Roman dabei auch eine leicht melancholische Liebeserklärung an Hamburg und das Alte Land entlang der Elbe.
In der ersten Hälfte seines Romans kann Mirko Bonné mit dem Aufeinandertreffen seiner stark gezeichneten Protagonistinnen und den daraus resultierenden Ver- und Entwicklungen vollauf überzeugen. Doch dann müssen die beiden nicht nur vor der Polizei, sondern auch vor Hollies Autonomenzelle aus der Wohnung an der Hoheluftbrücke fliehen – und Mirko Bonné verliert schlagartig den roten Faden und der Roman gerät ins Stolpern und Trudeln.
Der todgeweihte Dr. Romik, der wider Erwarten immer noch lebt und auch das strapaziöse On the road-Sein übersteht, versinkt zunehmend in „anflutenden Erinnerungen“ und „rastlosen Gedankenbrandungen“ sowie im Strudel seiner geschärften Sinneswahrnehmungen. Die Handlungsebene wird dabei zunehmend abstrus und unglaubwürdig. Und so schleppt sich der Roman die zweite Hälfte mühsam dahin und beginnt in sich selbst zu kreiseln. So gerät „Alle ungezählten Sterne“ zu einem Vexierspiel aus Top und Flop.
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