Nummer 74

Die Hefte für ostasiatische Literatur (HOL) begehen mit der Mai-Ausgabe 2023 ihr vierzigjähriges Jubiläum

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der 74. Ausgabe können die erstmals im August 1983 erschienenen Hefte für ostasiatische Literatur ihren 40. Geburtstag feiern. Das verdienstvolle Forum für Übersetzungen literarischer Texte aus Ostasien wurde von den Sinologen Volker Klöpsch (*1948) und Wolf Baus sowie von den Japanologen Wolfgang Schamoni (*1941) und Roland Schneider (1939-2007) ins Leben gerufen; seit Heft 7 erscheint das Magazin im Münchner Iudicium Verlag. Während sich die Aufmachung der Hefte im Laufe der vier Dekaden wandelte, fand man jüngst nach Heft 72 zu einem neoklassischen Retrodesign mit feiner Papierhaptik ohne Laminierung und dezentem Seitenstreifen in Orange.

Eine Geschichte akademischer Übersetzung

Ostasienwissenschaftlern der älteren Generationen sind die Hefte seit langem vertraut. Sie bilden nicht nur einen Teil der jeweiligen Fächerhistorie ab, sondern halten ihrerseits Material bereit für die jüngere Geschichte der Übersetzung aus dem Chinesischen, Koreanischen oder Japanischen. Im Fall der japanischen Sprache, in der seit einigen Jahren auf dem Buchmarkt viel „Content“ aus dem Unterhaltungssektor übertragen wird, erinnert die Lektüre von einschlägigen Texten aus den HOL-Heften wieder an die Diversität der landeseigenen Literaturszene und ebenso daran, dass die philologische Übersetzung doch deutliche Vorteile hat, wenn man sich nicht mit der in manchen gegenwärtigen deutschen Verlagslektoraten produzierten banalen Einheitstonart begnügen möchte.

In einem nicht-kommerziellen Magazin ist sowohl die Textwahl frei, wie auch der Duktus der Translation nicht reglementiert wird. In den Jahren, in denen ein leidenschaftlicher Übersetzer wie der Japanologe Otto Putz (1954-2011; siehe https://uelex.de/uebersetzer/putz-otto/), seit 1988 Redaktionsmitglied, aktiver Übersetzer und Mitherausgeber, einen Großteil der Japanbeiträge zu den Heften bestritt, wurden der interessierten Leserschaft etliche Arbeiten der literarischen Moderne aus dem frühen 20. Jahrhundert vorgestellt – Texte mit Tiefgang und Anspruch. Schon bei Wolfgang Schamoni fiel die Wahl der übersetzten japanischen Schriftsteller und Schriftstellerinnen häufig auf Repräsentanten der Proletarischen Schule bzw. auf sozialkritische oder politische Prosa. Folgerichtig führte die Redaktion im Mai 2022 eine Tradition fort, als sie „(a)ngesichts der aktuellen erschreckenden Entwicklungen in der Weltpolitik“ den Fokus der Übertragungen auf die Konstellation Macht, Gewalt und Profit legte. Schamoni veröffentlicht in dieser Nummer eine Erzählung des sozialistischen Schriftstellers Sakai Toshihiko (1871-1933), in der Sakai, der Zeitzeuge des Russisch-Japanischen Kriegs (1904-1905) war, „über die Absurdität von Krieg und Verfeindung nachdenkt“ (HOL 72; Vorbemerkung der Herausgeber).

Killing Fields, Korruption und der Sinn von Krieg

Die Jubiläumsnummer verfolgt diesen Kurs weiter und ermöglicht unter anderem durch die Übersetzungen von Gedichten des koreanischen Autors Kim Jun-tae (*1948) sowie von Essays aus der Feder des in Taiwan beheimateten Yang K‘uei (1906-1985) zusätzliche Einblicke in die diversen Atrozitäten, die die Zeitgeschichte zu bieten hat. Kim Jun-taes Gedicht Choeung Ek handelt von den „Killing Fields“ in Kambodscha. Choeung Ek ist eine Massengrabstätte der kommunistischen Diktatur der Roten Khmer unter Pol Pot (1925-1998), in der man zwischen 1975 bis 1979 dort wenigstens 8.895 Menschen verscharrt hat. Kim berichtet in seiner lyrischen Darstellung von „hundert milchduftenden Babys“, die „mit einem Lastwagen angekarrt und in einer Grube vergraben“ worden seien. Der Kommentar zum Text verrät leider nicht, warum die Kleinen aus Korea in einem kambodschanischen Grab liegen. Hatte man hier tatsächlich Kinderleichen entsorgt oder erkennt der Dichter in Korea „von prasselnden Kugeln“ getroffene Kinder, die ein ähnliches Schicksal wie die Toten erleiden mussten, vor seinem geistigen Auge?

Yang K’uei beklagt in seinem Essay Ein Jahr zum Heulen (1946) die missliche Lage, in der man sich in Taiwan kurz nach der Kapitulationserklärung des japanischen Kaisers 1945 befindet: Die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit scheint in weite Ferne gerückt, denn es herrschen Arbeitslosigkeit und Nahrungsmangel, Umstände, die den von Yang wahrgenommenen eklatanten moralischen Verfall begünstigten:

Die Korruption unter den Beamten ist schier nicht mehr auszurotten, und raffgierige Kaufleute nutzen ihre vorteilhafte Position, um ehrbare Leute zu betrügen; Recht und Unrecht sind in heilloser Verwirrung, Heimtücke treibt überall ihr Unwesen – in was für einer Welt leben wir eigentlich?

Obwohl die „alten Fesseln zerschlagen wurden“, muss der Autor feststellen, dass „wer auch nur ein paar aufrichtige Worte spricht oder ein paar ernsthafte Zeilen schreibt“, „umgehend auf jede erdenkliche Weise bedroht“ wird. Er ermuntert sich am Ende seiner kurzen Notiz, des Jammers zu entsagen und sich stattdessen jeden Tag dem „Kampf für die Demokratie“ zu widmen.

Im Essay Gedanken zum Krieg der Herausgeberin Asa-Bettina Wuthenow kommt die pazifistische Linie der Hefte abschließend erneut zum Ausdruck. Wuthenow bezieht sich auf die von Schamoni übersetzte Kurzgeschichte Der Feind von Sakai Toshihiko aus der HOL-Nummer 72 und hält fest, dass diese „die Menschlichkeit des einfachen, naiven russischen Bauern, der in einem Krieg verheizt werden soll“, zeige. Sie stellt mit Zitaten von Sakai, Kunikida Doppo (1871-1908) und dem proletarischen Autor Kuroshima Denji (1898-1943) die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Krieg, eine Frage, die im 20. Jahrhundert „viele Intellektuelle, aber auch viele Menschen aus der allgemeinen Bevölkerung“ aufgeworfen hätten: „Viele verstehen nicht, was die Politiker dazu bewegt, sich auf einen Krieg einzulassen, und begreifen nicht, welche Vorteile ein Krieg ihnen bringen sollte.“

Jubiläum und Perspektiven

Die Diktion des Essays, der ohne nähere Begründung unter anderem eine längere lyrische Einlassung aus dem Italienischen beinhaltet, erinnert daran, dass die Hefte immer noch ein wenig die Prägung der bildungsbürgerlichen Ordinarien-Universität aufweisen. Zwar konnte sich diese durch große philologische Akribie und Engagement für den Bildungsauftrag auszeichnen, hatte jedoch die damaligen Freiheiten oft nicht hinlänglich genutzt und gab sich in weiten Teilen als eine relativ humorlose und autoritätsorientierte Angelegenheit ohne den nötigen Esprit. Zweifellos bereichern die Hefte die Übersetzungsszene für ostasiatische Literatur auch in diesen Tagen und das Anliegen, die literarischen Repräsentationen schwieriger Dinge zugänglich zu machen, bleibt ein ebenso lobenswertes wie mutiges Unterfangen.

Die Vermittlung von Texten – im Fall der der japanischen Literatur – ist aber mittlerweile schon nicht mehr allein das Privileg akademischer Übersetzer und Übersetzerinnen. Die Zahl übertragener Werke hat sich seit einigen Jahren signifikant vermehrt. Freilich handelt es sich dabei um Texte, die nicht mit dem Profil des Magazins übereinstimmen, sondern, das wurde eingangs angemerkt, häufig dem „J-Content“-Muster mit seiner Ausrichtung auf den globalen Buchmarkt entsprechen. Das HOL-Konzept aus den 1980er Jahren kennzeichnet dagegen ein gewisser Grad an rückwärtsgewandter Exklusivität – vor allem in dem Sinn, dass sich jüngere Leser und Leserinnen des Magazins mit Habitus und Inhalt der Publikation vermutlich nur schlecht identifizieren können. Aktuell ignoriert das Organ den Mainstream geflissentlich. Man möchte vielleicht seinerseits den Zeigefinger erheben und auf die Vorbemerkung im Gründungsheft hindeuten, auf die chinesische Parabel vom Brunnenfrosch: Das Amphibium lebte lange zufrieden in seinem Brunnenloch, bis es aus dem Munde der Meeresschildkröte von den Freuden des Ostmeeres erfährt – was eine sofortige Ohnmacht des Froschs zur Folge hat. Eventuell sollten sich die „Brunnenfrösche“ – ohne ganz dem Zeitgeist verfallen zu müssen – erneut auf eine Horizonterweiterung einlassen. Der Zukunftsperspektiven zuliebe.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hans Kühner / Anna Stecher / Thorsten Traulsen / Asa-Bettina Wuthenow (Hg.): Hefte für ostasiatische Literatur 74. Was man Kunst nennt, ist die hauchdünne Scheidelinie zwischen Wirklichkeit und Schein.
Iudicium Verlag, München 2023.
157 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783862057061

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