Kläglich gescheitert?
Dicke Bücher, die wir nicht gelesen haben
Von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim
Rätsel des Lebens. Wie – um Himmels willen – konnte es nur passieren, dass wir als überzeugte Büchermenschen es einfach nicht schaffen, manche Klassiker der Weltliteratur vollständig zu lesen? Obwohl wir es wieder und wieder und wieder versucht haben. Immer wieder versuchen. Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt.
Dicke Bücher mit 800, 1.000 oder 1.800 Seiten üben eine magische Anziehungskraft auf uns aus, seitdem wir lesen können. Schon als Schüler und Studenten haben wir unser karges Geld für Robert Musils Mann ohne Eigenschaften und den Ulysses von James Joyce ausgegeben. Wir haben uns riesig auf die Lektüre gefreut – und dann nach zehn oder 100 Seiten aufgegeben. Gelangweilt, verstört, frustriert. Wir haben uns als Versager gefühlt, als Literatur-Weicheier, als verachtenswert oberflächliche Medienkonsumenten. Als Leser, die nicht die olympische Ausdauer für wahre Literatur haben.
Aber warum haben wir dann Leo Tolstois Krieg und Frieden und Anna Karenina sogar mehrmals mit Genuss studiert? Gerade erst haben wir uns die Karenina gegenseitig vorgelesen und waren bei jeder neuen geteilten Lektüre gespannt wie Kinder auf eine spannende Abenteuergeschichte. Das Vorlesen dicker Bücher wurde uns zur Sucht. Als die 672 Seiten der Jane Eyre von Charlotte Brontë zu Ende waren, haben wir uns nur ungern von dieser Heldin verabschiedet. Jedoch, am lauten Lesen für den anderen kann es auch nicht liegen: Thomas Manns Doktor Faustus haben wir bis Seite 105 geschafft – dann sahen wir uns ein wenig unsicher an und beschlossen peinlich berührt: „Wir hören auf!“ Mit Goethes Wahlverwandtschaften hängen wir aktuell ein bisschen und haben dafür die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm eingeschoben.
Klar: Jeder Mensch hat individuelle thematische Rezeptoren und Stilvorlieben, die ihn empfänglich machen für eine glatte oder sperrige Aufnahme von literarischen Texten. Dass es jedoch eine überraschende Text-Hirn-Schranke gibt, die zum Abbruch einer herbeigewünschten Lektüre führt, ist frustrierend. Aber auch das ist Teil der Reize von Büchern. Denn wir wissen zu Beginn des Lesens nie, wohin uns die Reise in die Welt der Buchstaben führen wird.
An unserer mangelnden Konzentrationsfähigkeit im analogen Leben kann es nicht liegen, denn unsere Vision vom Glück ist es, in einer riesigen Bibliothek zu leben. Auch lange Sätze schocken uns nicht, wir lesen den für seine endlosen Sätze berüchtigten Proust mit Hingabe. Und es gibt für uns nichts Schöneres, als den schweren, 1.280 Seiten dicken Gallimard-Band Lettres à Anne mit den Liebesbriefen François Mitterands an Anne Pingeot aus vier Jahrzehnten Seite für Seite zu studieren. Der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch Wir haben es nicht gut gemacht mit seinen 1.038 Seiten liegt hingegen immer noch ungelesen im Regal. Warum? Wo wir doch Frisch verschlungen haben, in unserer Frisch-Phase, die nach der Aldous Huxley-Phase und der Hesse-Phase kam. Irgendwann kam die Philip Roth-Phase. Und danach all die anderen Phasen.
Der erste Satz entscheidet
Vielleicht liegt es an der „Kunst des ersten Satzes“, die auf der Journalistenschule gelehrt wird. Wenn dieser die Leser in den Bann zieht und der weitere Text gebaut ist wie eine Kugelbahn, die die Leserschaft klar in der Rille hält, bleiben sie bei der Stange.
Marcel Prousts Anfangssatz aus Du côté de chez Swann, dem ersten Band der Romanfolge À la recherche du temps perdu, ist uns ein Mantra geworden: „Longtemps, je me suis couché de bonne heure.“
Aber auch spannende erste Sätze können trügerisch sein. „Gravitätisch kam der dicke Buck Mulligan vom Austritt am obern Ende der Treppe: er trug ein Rasierbecken, auf dem kreuzweise ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen.“ Dieser erste Satz aus dem Ulysses hat uns in seiner cinematographisch klaren Beschreibung fasziniert. Dennoch haben wir es immer noch nicht geschafft, die restlichen 810 Seiten zu lesen.
Der Mann‘sche Sprachduktus am Beginn des Doktor Faustus hat uns zwar eingelullt, aber auch er trug uns bislang nicht bis an das Ende des Romans:
Mit aller Bestimmtheit will ich versichern, dass es keineswegs aus dem Wunsche geschieht, meine Person in den Vordergrund zu schieben, wenn ich diesen Mitteilungen über das Leben des verewigten Adrian Leverkühn, dieser ersten und gewiss sehr vorläufigen Biographie des teuren, vom Schicksal heimgesuchten, erhobenen und gestürzten Mannes und genialen Musikers, einige Worte über mich selbst und meine Bewandtnisse vorausschicke.
Natürlich sind literarische Texte oft anders konzipiert und gebaut als journalistische oder feuilletonistische. Sie dürfen merkwürdig, verstörend, rätselhaft, undurchdringlich sein. Aber wenn die Mühsal überwiegt, die Themen der Leserin während der Lesephase insignifikant erscheinen, warum soll man dann weiterlesen? Soll das Lesen nicht Freude machen? Sinnlich sein? Spannend? Erhellend? So wie die musikalischen Motive im Soul oder Rock, in Renaissance-Liedern oder Samba, im Trap oder House? Wir kennen Leserinnen, die können mit einem Buch nicht aufhören, auch wenn sie es nicht wirklich gut finden. Wir sind nicht so, wir können ein Buch beiseitelegen.
Ulrich zwischen Agathe, Leona und Bonadea: Der rätselhafte Sog von „Der Mann ohne Eigenschaften“
Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen.
Ist das ein sonderlich verlockender Einstiegssatz? Eher nicht. Auf der Journalistenschule würde man damit wahrscheinlich vor die Klassentür gesetzt. Und dennoch lasen wir mit angehaltenem Atem die anschließenden 1.040 Seiten des ersten Bandes von Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Der Schlusssatz – „Dann erst erfuhr Ulrich, dass sich Agathe plötzlich verabschiedet und ohne ihn das Haus verlassen habe; man richtete ihm aus, dass sie ihn durch ihren Entschluss nicht hätte stören wollen“ – lockte in den zweiten Band. Aber auch damit war noch nicht genug!
Als der Schlusssatz auf Seite 1.370 gelesen war – „Sie war ganz und gar nicht niedergeschlagen und überlegte sich, die Treppe hinabsteigend, schon andere Möglichkeiten“ –, ging es einfach nicht anders, als die in den Korrekturfahnen weiterbearbeiteten und von Robert Musil zurückgezogenen Kapitel zu lesen. Und als auch die auf Seite 1.810 endeten, musste immer noch weitergelesen werden, auch wenn die Buchstaben wesentlich kleiner, als wahres Augenpulver, gesetzt waren. Erst der letzte Satz des Herausgebers Adolf Frisé auf Seite 2.160 erzwang das Ende der Lektüre. Die Verabschiedung von diesen beiden Bänden fiel schwer. Vielleicht lag es auch daran, was der Verfasser dem zweiten Band als Motto schenkte: „Denn die Weltgeschichte ist mindestens zur Hälfte eine Liebesgeschichte!“ Geht es uns mit dicken Büchern – manchen dicken Büchern – auch so?
Ein Lobpreis der dicken Bücher, aus denen gute Serien gemacht werden
Nein, wir haben die bisher erschienenen fünf Bände von A Song of Ice and Fire des US-amerikanischen Erfolgsautors George R. R. Martin nicht gelesen, auch wenn diese bislang weltweit 85 Millionen Mal verkauft und in 47 Sprachen übersetzt wurden. Wir lasen weder die englische Originalausgabe noch die zehn Bände der deutschen Übersetzung.
Aber, wir haben sämtliche Folgen der acht Staffeln von Game of Thrones (GoT) gesehen. Nein, nicht nur gesehen, wir haben sie verschlungen. Wir lebten, litten und freuten uns mit den Heldinnen und Helden, den Schurken und Hexen dieser Saga, die von den dunklen Seiten von Menschen und Gesellschaften erzählt. Die gigantische Erzählung von den Versuchen des Bösen, das Gute zu besiegen, bildete den Inhalt der 4.745 abendlichen Stunden. Gebannt verfolgten wir die komplexen Erzählstränge, die sich um ein einziges Thema flochten: „Power is a curious thing.“
Nach insgesamt 73 Folgen von durchschnittlich jeweils 65 Minuten waren uns die dramatischen Geschehnisse auf den beiden Kontinenten Westeros und Essos und den Kämpfen zwischen den sieben Königreichen Teil unserer inneren Welt geworden. Die Spannungen zwischen den mächtigen Adelshäusern, die sämtlich um den Eisernen Thron kämpfen, wurden Teil unserer Sicht auf die politischen Geschehnisse unserer eigenen Zeit und nicht nur die eines fiktiven Mittelalters. Auch in unserer Zeit geht es um Machtkämpfe, um komplexe Gesellschaftsverhältnisse und um die Bedeutung von Religion in Kriegen zwischen und innerhalb von Gesellschaften. Und auch dabei geht es zumeist grausam und gewalttätig zu, selbst wenn nicht immer Blut fließt.
Wir sollten an dieser Stelle diese HBO-Produktion der Jahre 2011 bis 2019 nicht über Gebühr vorstellen. Wer sie nicht kennt, sollte wenigstens diesen einen Trailer auf sich wirken lassen: https://www.hbo.com/game-of-thrones.
Wer sie jedoch gesehen hat, wird sich mit uns an Daenerys Targaryen, Tyrion Lannister, Cersei Lannister, Jaime Lannister erinnern. Und an Jon Snow und seine Liebe zur Wildlingsfrau Ygritte. Und wir alle werden den Soundtrack der Serie, komponiert von dem Deutsch-Iraner Ramin Djawadi, immer in der inneren Playlist behalten. Und uns auch weiterhin darüber freuen, dass Kit Harington – alias Jon Snow – und seine Filmliebe Rose Leslie – alias Ygritte – im Jahr 2018 im richtigen Leben heirateten, und nun schon zwei Kinder haben. Das war fast so wie in Woody Allens Film The Purple Rose of Cairo, in dem der Hollywoodstar Gil Sheperd – gespielt von Jeff Daniels – einfach aus der Kinoleinwand steigt und auf die im Kino sitzende Kellnerin Cecilia – gespielt von Mia Farrow – zugeht. Allens Film war Kintopp, die Heirat der beiden GoT-Helden war Wirklichkeit. Und wenn sie nicht gestorben sind…
Was wollen wir damit sagen? Es geht immer um gut erzählte Geschichten, Erzählungen, Märchen. Wenn sie spannend sind und wir zudem eine Person finden, mit der wir uns ganz oder teilweise identifizieren können, an deren Schicksal wir teilhaben, dann ist es uns nicht so wichtig, ob diese Geschichten auf hunderten Buchseiten zu lesen sind oder auf DVDs zu sehen sind. Es können sogar gestreamte Serien sein, Hauptsache ist, dass es lange Geschichten sind.
Ob dicke Bücher oder viele Filme: Hauptsache, sie entführen uns in die Geschichten anderer Menschen, die wir auf diese Weise näher und intensiv kennenlernen. Von denen wir für uns etwas lernen können. Ob es um die Parallelaktion des 30. Thronjubiläums des preußischen Kaisers Wilhelm II. und der Feier zum 70. Regierungsjahr des Kaisers Franz Josephs geht, in dem der Ulrich von Robert Musil hin- und hertaumelt, oder um Jon Snow und die Männer der Nachtwache, die die 200 Meter hohe Mauer aus Stein und Eis gegen die Bedrohung durch die Untoten jenseits der Mauer schützen wollen: Hauptsache die Geschichte wird so erzählt, dass man nicht aufhören möchte. Und sich auf der letzten Seite des letzten Kapitels oder bei der letzten Folge der letzten Staffel von jenen Menschen verabschiedet, die einem über lange Zeit sehr nah gekommen sind.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.