Hölle statt Heim
In ihrem Roman „Heimgesperrt“ schildert Sylvia Wagner das Schicksal zahlreicher Heimkinder, die die Pharmaindustrie für Medikamentenversuche missbraucht hat
Von Monika Grosche
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSylvia Wagner war selbst als Baby und als Kind in einem Heim untergebracht, bevor sie später in eine Pflegefamilie kam. Sie greift in ihrem Roman ihr eigenes Schicksal sowie das ihrer LeidensgenossInnen auf, deren Leben bis heute von dem damals Erlittenen geprägt ist und die um Anerkennung ihres Rechts auf Wiedergutmachung kämpfen.
Dass bundesdeutsche Kinderheime in den 1960ern und 1970ern alles andere als Zufluchtsorte oder gar ein Zuhause waren, ist inzwischen aufgrund von aufgedeckten Missbrauchsskandalen kein Geheimnis mehr. Als man endlich, aufgerüttelt von vermeintlichen Einzelfällen, damit begann, sich um die Zustände in staatlichen wie kirchlichen Einrichtungen zu kümmern, stieß man auf ein System struktureller Gewalt: Kinder wurden verwahrt und gedrillt, mit Strafen überschüttet und gequält, anstatt ihnen einen guten Start ins Leben zu ermöglichen.
Auch in dem Roman von Sylvia Wagner lassen einem die Schilderungen von drakonischen Strafen für vermeintliche Vergehen wie Nichtaufessen, Bettnässen oder Sprechen beim Mittagessen das Blut in den Adern gefrieren: Da müssen Kinder mit Bibeln auf ausgebreiteten Armen stundenlang in der Ecke stehen, ihr eigenes Erbrochenes essen oder werden mit Waterboarding (das hier natürlich nicht so heißt) für Aufsässigkeit bestraft. Der Erfindungsreichtum von „PflegerInnen“ und Nonnen kannte kaum eine Grenze, wenn es darum ging, ihre Schützlinge zu demütigen und zu quälen.
Dem liegt ein Erziehungsmodell zugrunde, das weitgehend die Zucht und Ordnungs-Mentalität des Nationalsozialismus fortsetzt. Das System des Wegsperrens, so stellte Autorin Sylvia Wagner fest, als sie mit den Recherchen zu ihrer eigenen Herkunft begann, setzte bereits bei den Müttern an. Denn Sylvias Mutter hat ihre Kinder nicht freiwillig weggegeben. Vielmehr wurde sie als ledige Mutter, die obendrein Alkohol trank und deren Kinder verschiedene Väter hatten, als „verwahrlost“ angesehen. Das besiegelte ihr Schicksal, denn sie landete daraufhin, wie viele andere, mit der Diagnose „Schizophrenie“ in der Psychiatrie. Die Kinder wurden bereits als Babys in Säuglingsheimen untergebracht, da diese durch ihre Mütter erblich vorbelastet sein sollten – und damit gefährdet, ebenfalls zu verwahrlosen oder „schwachsinnig“ zu sein.
Diese erschütternde Erkenntnis machte die Autorin neugierig, mehr über ihr eigenes Schicksal als Säugling zu erfahren. Doch seltsamerweise waren keine Unterlagen mehr zu ihrem Aufenthalt im Heim zu erhalten. Kein Einzelfall, wie sie dann später bei Heimkindertreffen erfuhr: Allzu oft scheinen ausgerechnet die Archive solcher Einrichtungen Bränden oder Überflutungen zum Opfer gefallen zu sein…
Die Treffen mit den anderen Betroffenen bestärkten die Autorin aber nicht nur darin, mehr über ihre Geschichte erfahren zu wollen, wie sie in ihrem Vorwort berichtet. Vielmehr stieß sie hier auch auf deutliche Hinweise, dass in den Einrichtungen gerne mit „bunten Bonbons“ und Spritzen gearbeitet wurde, um die Kinder ruhigzustellen und ihren Willen zu brechen. Zudem führte die Pharmaindustrie mit Unterstützung von Ärzten, die teilweise direkt aus dem NS-Regime übernommen wurden, über viele Jahre hinweg Versuchsreihen an Kindern durch, ohne dass sie selbst oder deren Angehörige davon wussten.
Dies motivierte Wagner dazu, zu dem bislang verborgenen Geschehen auch aus beruflichem Interesse an der Thematik weiterzuforschen. Wie nur wenige ihrer SchicksalgenossInnen hatte sie sich einen Besuch des Gymnasiums erkämpft und nach dem Abitur Pharmazie studiert. So wurde der Medikamentenmissbrauch in den Heimen zu ihrem Forschungsprojekt, über das sie ihre Dissertation verfasste und in Fachveröffentlichungen den Skandal publik machte.
Ihre faktenreichen Forschungsergebnisse konnten nicht ignoriert werden, denn sie belegen den jahrzehntelang vertuschten Skandal. Somit gibt es auch mittlerweile zumindest Ansätze zu einer Aufbereitung – auch wenn, wie stets in solchen Fällen, eine wirkliche adäquate Entschädigung der Opfer auf sich warten lässt. Zwar bekommen diese inzwischen für ihre Langzeitschäden Sachleistungen zugebilligt, so etwa Hörgeräte, wenn nachweislich systematische Schläge auf die Ohren den Gehörsinn beeinträchtigt haben.
Doch die schweren Folgen der psychischen, physischen Gewalt und der Medikamentengaben sind mannigfaltig und vor allem lebenslang: Wer als Säugling im Bett festgebunden war und nur überlebte, wenn er kräftig genug war, selbst die Flasche zu halten oder wer als „Schwachsinniger“ gerade mal auf die Sonderschule durfte oder wer schon als Kind schwerste körperliche Arbeit verrichten musste, der hatte nicht nur keinen guten Start ins Leben, sondern eigentlich das Scheitern als „Selffulfilling Prophecy“ auf lange Sicht mitgegeben bekommen.
All dies erfahren wir in dem spannend erzählten Roman um die fiktive Protagonistin Hanna, ihren Lebenspartner Hannes und die anderen ehemaligen Heimkinder, denen Hanna bei ihren Nachforschungen begegnet. Warum braucht es aber noch ein Stück Fiktion, wenn es doch schon einiges an Artikeln und Fachbeiträgen zum Thema gibt?
Nun, zum einen kann es natürlich nicht genug Aufmerksamkeit geben, wenn es darum geht, vergangenes Unrecht aufzuarbeiten und neues zu verhindern. Zum anderen erreicht Fachliteratur naturgemäß nur ein begrenztes Publikum, während die Fiktionalisierung in einem Roman einen emotionalen Zugang für ein breites Lesepublikum ermöglicht. Diese hilft, die Dimension des Leids, das bis heute fortwirkt, begreifbar und erfahrbar zu machen.
Dennoch ist Heimgesperrt keine deprimierende Lektüre. Dies ist dem erzählerischen Talent der Autorin geschuldet, aber auch dem großen Respekt, den man für ihre Resilienz und ihren kämpferischen Lebensmut beim Lesen empfindet.
Sylvia Wagner ist es zu verdanken, dass ein schlimmes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht weiter unter den Teppich gekehrt wird – und dass die Romanlandschaft um einen guten, bewegenden Titel reicher ist.
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