Worüber man nicht sprechen kann
In „Schweigen“ werden Aspekte und Facetten der Stille vorgestellt
Von Thorsten Paprotny
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Stille hat viele Gesichter, facettenreiche Dimensionen und unterschiedliche Nuancen. Manchmal birgt das Schweigen ein Geheimnis, deutet hinaus auf das Mystische, gemäß dem berühmten Diktum des Philosophen Ludwig Wittgenstein: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Das Schweigen indessen ist nicht allein, wie hier bezeichnet, eine unvermeidliche Notwendigkeit, die besteht, sofern das, was zu sagen wäre, ins Unsagbare hineinreicht, sondern es kann auch, wie in dem neuen Band der Literaturzeitschrift Akzente, den Daniela Dröscher herausgegeben hat, Ausdruck von Emotionen und Erfahrungen sein, ja ein kommunikativer Akt.
Dröscher spricht mit Blick auf die vorliegende Textsammlung von einem „Kaleidoskop“ über den „sonderbaren Sprechakt“, der sie bereits in der Kindheit „schwer beschäftigt“ habe: „In unserer Familie wurde ausgiebig und auf unterschiedlichste Art geschwiegen.“ Zudem herrsche ein Schweigegebot bei kirchlichen Trauungen, und es gebe eine Reihe von „sprachlichen Wendungen“, die auf die Dimensionen des Schweigens bezogen seien. Sie bekennt sich zu einer Literatur, die „mit wenigen Worten auskommt, die jede Silbe dreht und wendet und auf die berühmte Goldwaage legt“. Was aber überhaupt bezeichnet das Schweigen, jene besondere Stille, die auch in der Literatur spürbar wird? Daniela Dröscher schreibt:
Es gibt Momente, da scheint alles gesagt, im Großen, im Kleinen. Zumal dann, wenn das Gesagte – das oft und laut und vielfach Wiederholte – schlicht nicht gehört zu werden scheint, versiegt der Glaube an das Wort.
Doch glauben wir als Sprechende und Schreibende wirklich an das Wort, bzw. daran, dass es für alles ein treffendes, buchstäblich bezeichnendes und auch gutes Wort gibt? „Was für ein Luxus, schweigen zu können. Was für ein Luxus, nicht schweigen zu müssen. Beide Sätze könnten stimmen. Je nach Situation aber können sie falsch, ja, nahezu obszön falsch sein.“ Dröscher verweist auf eine sprachliche Gratwanderung, vielleicht auch auf einen Balanceakt hin. Sie formuliert weiter:
Die Literatur ist diejenige Kunst, die wie keine andere an der Grenze zwischen Sprechen und Schweigen beheimatet ist. Sowohl das Schreiben als auch das Lesen setzen ein Mindestmaß an Stille voraus. Wie still unsere Kunst im Vergleich zu anderen Künsten ist, fällt mir auf, wenn ich selbst einen Text auf einer Bühne vorlese oder anderen Autor:innen zuhöre.
Nur zu gerne würde sie einmal die „schweigenden Gesichter meiner Leser:innen studieren“, und vielleicht so auch die „ganze Klaviatur menschlicher Gefühle“ entdecken.
In dem Band sind sowohl Texte klassischer Art, etwa von Franz Kafka, Thomas Mann und Virginia Woolf, eingefügt, aber auch sehr viele neue Lesestücke und kurze Reflexionen über Schweigen und Stille in der Literatur, die von dem Schweigen in den Familien bis hinein in den Raum des Politischen. Shida Bazyar etwa berichtet von verschwiegenen Namen, die bekannt sind, aber nicht genannt werden, von Namen, die selbst „wie ein Sprechen sind, ein Schreien, ein schmerzvolles Brüllen, wie es nur aus der Ungerechtigkeit heraus geboren werden kann“. Bazyar fordert, die Namen der Toten zu nennen, die auch „nicht schweigen“ würden, „solange wir sie sprechen lassen“:
Während deutsche Nachrichtenagenturen bei Berichten über Irans aktuelle Proteste lieber auf Staatspropaganda eines misogynen, rassistischen, antisemitischen, islamistischen Staates zurückgreifen, sitzen wir in Freiheit und lernen die Namen der Ermordeten auswendig. Wir setzen ihre Namen hinter Hashtags und teilen ihre Bilder.
Von diesen Toten, so erklärt Shida Bazyar, dürfe nicht geschwiegen werden.
Olaide E. Frank denkt über „ungesagte Wahrheiten und Unwahrheiten“ nach, über das „Schweigen der Anderen“, über Worte, die in „dünnen Schichten fragiler Harmonie“ ruhten, über die Stille, die zur „Barriere“ werde:
Und die größte Stille ist fremd, auferlegt, löschend, Bedeutung am Ansatz abrasiert. Im Keim erstickt. Strukturen, die Strukturen bewahren. Gleichzeitigkeit, ohne Raum, um nach Luft zu schnappen. Immer da und wiederkommend. Spaltet, stopft aus und übermalt.
Die Stille nimmt so die Gestalt einer bedrohlichen, ja unheimlichen Macht an, deren Konturen beschrieben werden können, in Andeutungen, aber eine erschöpfende, hinreichende Interpretation scheint unmöglich zu sein.
Svenja Leiber öffnet neue Perspektiven auf Odysseus und den Sirenengesang, so instruktiv wie fantasievoll. Sie bezweifelt, dass Odysseus die Wahrheit gesagt hat und sich aus Scham „Heldentaten“ erdacht habe, darunter die mythische Projektion der Sirenen, in der „begehrenswerte Frauen“ als „dämonische Wesen“ vorgestellt werden. Kafka habe dies erahnt, erkannt: „Erst Kafka verriet, dass die Sirenen in Wahrheit schwiegen und dass Odysseus nur glaubte, sie sängen. Oder dass er sogar nur so tat, als glaubte er es.“ So sei möglicherweise die „binäre Ordnung der Welt“ hier erfunden worden, so dass diese nichts weiter sei als eine listige Imagination, eine bloße, wirkmächtige „Behauptung“. Dilek Güngör sodann denkt über das Schweigen in der Familie nach, insbesondere in der Beziehung zwischen Vater und Tochter. Gefühlvoll und intensiv schreibt sie:
Wir zwei werden nicht ins Schwätzen kommen. Wir werden nicht miteinander sprechen. Wir haben nie miteinander gesprochen. Wir müssen nicht reden. Ich will nicht reden, ich will Nähe, Vaternähe. Ich will Vertrautheit, ich will Selbstverständlichkeit, ein gelassenes Beieinandersein ohne Druck auf der Brust, ohne ein Ziehen im Bauch, ohne die Stimme im Ohr, die einen Makel darin sieht, Versagen, Gefühlskälte, Gleichgültigkeit. Das ist nicht Mamas Stimme, es ist meine eigene.
Doch lässt sich dieses Schweigen, lässt sich diese Stille mit Worten wirklich fassen oder wenigstens annähernd beschreiben? Ilma Rakusa findet Synonyme für die Begriffe, nicht aber Antworten auf die Fragen. Sie erwägt Philosophisches und Theologisches, die Stille könne der „Grund von allem“ sein: „Wer sie negativ definiert, geht fehl.“ Weiter schreibt Rakusa:
Im Anfang war nicht das Wort, sondern die Stille. Die Stille, aktiv: sie webt, wächst, breitet sich aus, vibriert, nimmt überhand oder ab. Wie elementar sie ist, zeigt der Umstand, dass sie sich nicht in die Mehrzahl setzen lässt. Stille, tout court. Stille wie: Leben, Sinn, Kontingenz. Was anhebt, hebt in der Stille an und fällt früher oder später in sie zurück. Die Stille nährt, auch das. Sie ist das A und das O, und wer still ist, hat Anteil an ihrem immensen Fundus: das stille Kind, das stille Kämmerlein.
In diesem schmalen, lesenswerten Akzente-Heft begegnen vom Lärm der Welt verdrießlich gestimmte ebenso wie über Stille und Schweigen sinnierende Leserinnen und Lesern gedankenvollen Betrachtungen über ein Phänomen, das uns täglich umgibt und dem wir doch vielleicht nicht hinreichend Aufmerksamkeit schenken. Über das, worüber wir nicht sprechen können, müssen wir schweigen – aber über die Stille und das Schweigen können und dürfen wir sinnreich nachdenken. Der von Daniela Dröscher herausgegebene Band lädt dazu ein.
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