Von Trauer und Sinnleere zum lebendigen Empfinden

Měrana Cušcyna legt mit „innen bröckelt die unerhörte schicht“ einen Gedichtband mit Lebenskraft vor

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Sorben bewahren sich in der Lausitz ihre eigene Kultur. Autorin und Übersetzerin Měrana Cušcyna wurde 1961 in Bautzen, einem kulturellen Zentrum der Sorben, geboren und lebt und arbeitet bis heute dort. Es ist ihr ein Anliegen, Sprache, Kultur und Traditionen des sorbischen Volkes lebendig zu halten. Die enge Verbundenheit zu ihrer Heimat wird auch in ihrem neuen Gedichtband „innen bröckelt die unerhörte schicht“ deutlich – sowohl in den enthaltenen Erinnerungen als auch in den Hoffnungen. „Woher wohin“, fragt direkt das erste Gedicht, malt ein „zerrbild zukunft“, und mit ihm beginnt eine lyrische Wanderung. Erinnerungen an Kastanienbäume, Gartenzäune und Herbststürme brausen auf. Dynamisch sind die Bewegungen durch vom Bergbau gezeichnete Landschaften („kohleland“) zwischen Bautzen und Bohsdorf in den Gedichten. Immer wieder taucht dabei der Czorneboh – sorbisch Čornobóh – auf, ein Berg in der Oberlausitz. Der Ausblick vom Aussichtsturm auf seinem Gipfel gestattet einen weiten Blick; hier scheint die Zeit langsamer zu vergehen. Dieser Eindruck von Weite und Langsamkeit wirkt befreiend, weil sich doch alles im Leben so schnell wandelt. Andererseits ist es bedrückend, weil man fühlt, wie kurz man selbst nur auf Erden ist.

Eine enorme Sogwirkung entfalten die melancholischen Gedichte des unter der Überschrift „erdfrüchte auf deiner haut“ zusammengefassten Zyklus. Der Leser beobachtet darin das lyrische Ich bei der Auswahl der letzten Kleidung für einen Verstorbenen. Was sollte mitgegeben werden, Gegenstände werden in die Hand genommen und verworfen: „im sarg wird kein platz sein“. Jemand kauft Blumen, lässt sie „im auto auf deiner seite“ liegen, sie verwelken. Und in einem anderen Gedicht gesteht sich das lyrische Ich ein, dass es trotz aller Bemühungen manchmal zu viel wird. Unverstellte Verzweiflung, greifbare Leere; die Trauer kriecht unter die Haut. Wenn die Trauer zu einem dauerhaften Begleiter wird, dann kann sie sich wie eine Decke über die Wahrnehmung der Welt legen. Es entsteht ein immer schwerer werdender Schleier aus Sinnleere und Resignation, ein Strudel zieht in die Depression, langsam, unmerklich und tief im Inneren – wie die dem Gedichtband seinen Titel gebende, von außen nicht sichtbare Schicht. Langsam und zugleich mit Stärke zieht der Strudel an der Seele. Sein Sog nimmt zu. Doch bei Měrana Cušcyna bröckelt die Schicht, so steht es auf dem Buchdeckel. Denn ihre Gedichte erinnern nicht nur an Krieg, an Gräuel, Verlust und an Trauer. Sie beschreiben nicht nur den Fall in die Dunkelheit. Sie geben eine Richtung vor, sie geben eine Perspektive.

Der Weg von schwerer Krankheit, welche sie in berührenden literarischen Splittern beschreibt, sowie von Schicksalsschlägen zurück ins Leben ist schwierig. Der Leser fühlt sich von Měrana Cušcyna auf dem Weg ins lebendige Empfinden begleitet. Er soll trotz der Anziehungskraft der Dunkelheit die Schönheit der Welt sehen, seinen Blick weiten. Dann zieht etwa der Duft des Frühlings durch die Verse oder ein Herbstmarkt mit seinen Gemüsehändlern wird besucht. Licht dringt ein und wandert durch ein Zimmer. Ein gutes Beispiel für die enthaltene Lebenskraft ist das Gedicht „Der rote baum“, welches in die Farbenvielfalt und die Formen der Landschaftsmalerei von Jan Buck einführt. Der sorbische Maler Jan Buck blieb zeitlebens in einem engen Umkreis seines Geburtsortes und entwickelte dennoch einen weiten Blick. Er sah zwar die Zerstörung von Landschaft durch den Braunkohletagebau, zeigte sich aber zugleich beeindruckt von Licht und Strukturen und verarbeitete diese positiven Eindrücke in einer Vielzahl von Bildern. „Der rote baum“ nimmt die Eindrücke auf und spiegelt sie, auf wenige Wörter verdichtet, wider. Es leuchten die Farben und ihre Polyvalenzen geradezu aus den Zeilen. Mit „Der rote baum“ ist Cušcyna eine perfekte Verbindung zwischen vorgestellten und wahrgenommenen Bildern, zwischen ihrer Dichtung und der Malerei von Jan Buck gelungen. Das Gedicht ist eine posthume Ehrung, welcher im Kapitel „trunken vom salbeitee“ weitere folgen, darunter eine Würdigung des 2017 verstorbenen Poeten und Sprachkünstlers Kito Lorenc, dessen Gedichte ebenfalls Grenzen ausloten; Grenzen zwischen Bild und Poesie sowie Grenzen zwischen zwei Sprachen.

Denn die Lyrik von Kito Lorenc und Měrana Cušcyna speist sich aus zwei Sprachen und Kulturen: dem Sorbischen und dem Deutschen. Měrana Cušcyna schreibt auf Sorbisch und Deutsch. In ihrem Gedichtband „innen bröckelt die unerhörte schicht“ seien die meisten Texte „zunächst in deutscher Sprache entstanden“, erläutert Jayne-Ann Igel in ihrem Nachwort. Doch im Gedichtband sind auch sorbische Verse enthalten. So werden Risse spürbar. Igel erklärt, man erkenne die Risse, „je nachdem, aus welchem sprachlichen Umfeld man kommt“. „zwei zungen treffen sich täglich/ halten mit ihren sprachen/ nicht hinterm berg“, heißt es im Gedicht „Treffpunkt täglich“. Cušcyna scheint vom Leser zu verlangen, sich auf Sprachexperimente einzulassen und an diesen Rissen zu arbeiten. Und es ist ein Genuss, sich an den Grenzen zu bewegen und ihre Worte einzuatmen. Der Leser findet in den Gedichten eine „sprachetage“, „worte in warteschleife“, „wortnähte“, „wortfreispritzer“ und ein „wortzentrum“ sowie ein „wortmitglied“. Er erkennt feine Beobachtungen des sorbisch-deutschen Wortwandels. Rhythmen und Satzbau werden thematisiert. Neologismen wie „windverse“ und „silbenstaub“ erfreuen jeden Sprachliebhaber. Cušcynas Gedichtband feiert die Vielfalt der Sprachen, die Vielfalt der Poesie – und das Leben.

Titelbild

Měrana Cušcyna: innen bröckelt die unerhörte schicht. Gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2023.
136 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783948305246

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