Auf den Spuren des friedlichen Widerstands
Cäcilie Kowalds Romandebüt „Menschenkette“
Von Oliver Bruskolini
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Kalender zeigt den 22. Oktober 1983. Der Rüstungskrieg zwischen den USA und der Sowjetunion spitzt sich zu. Im Mittelpunkt des Kalten Krieges steht Deutschland. Durch die geografische Nähe zu Russland und den historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs bietet Deutschland den idealen Stützpunkt für die Atomraketen der USA. Das Vorhaben atomarer Aufrüstung auf deutschem Gebiet löst Widerstand in der Bevölkerung aus. Aktivisten planen, die längste Menschenkette der Geschichte zu formieren, um friedlich zu protestieren. Hier beginnt die Handlung des Debütromans Menschenkette der Karlsruher Autorin Cäcilie Kowald.
Aus der Perspektive von acht Aktivisten und Aktivistinnen erzählt Kowald den Morgen des Aktionstages nach. Oliver, Abiturient, gerät immer wieder mit seinem Vater, einem „Mr. Big“ genannten Polizisten, aneinander. Er traut sich nicht, seinem Vater zu sagen, dass er den Wehrdienst verweigern will. Gleichzeitig ist Oliver verliebt in die Tochter seines Lehrers Werner Semrau, einem Weltkriegsveteranen.
Auch die von Friedensdemonstrationen überzeugte Marlene ist eine Lehrerin von Oliver. Sie absolviert ihr Referendariat unter der Anleitung von Semrau. Dieser begleitet sie eher aus einem Schuldgefühl heraus – er wünscht sich, seine Kinder besser zu verstehen. Marlenes Schwester Ulrike lebt gemeinsam mit „Rampe“ in einer Kommune auf einem alten Bauernhof. Sie hofft, Marlene im Zuge der Menschenkette zu treffen und den mittlerweile abgeflauten Kontakt zur einst so vertrauten Schwester wiederzubeleben.
Ines, zwischenzeitlich nach Mittelamerika ausgereist, fällt es nach ihrer Rückkehr schwer, sich in Deutschland wieder einzufinden. Nachdem sie lebensbedrohliche Umstände erfahren hat, empfindet sie den Widerstand in Deutschland als „Jammern auf hohem Niveau“. Sie reist mit Marlenes Freund Boris zur Menschenkette.
Wilfried, Pastor, begleitet seine Gemeinde mit dem Zug zur Menschenkette. Er möchte im Laufe des Tagesausflugs auch seine Mutter Irmgard treffen, die in einem der Orte lebt, in denen sich die Menschen versammeln. Irmgard ist eine der wenigen Dorfbewohnerinnen, die den Aktivisten offen gegenübersteht.
Bemerkenswert an Kowalds Roman ist die Erzählstruktur. Ihre Erzählung beginnt um 06:30 Uhr am Morgen der Aktion und endet um 12:45 Uhr mit der Schilderung der geschlossenen Menschenkette. Daraus ergibt sich ein beinahe simultanes Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit, was den Roman wie einen Zeitzeugenbericht erscheinen lässt.
Dieser Ansatz sowie die Idee, ein soziohistorisches Ereignis aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen, bergen großes Potenzial für eine fesselnde Geschichte. Leider kommt Menschenkette über diesen Ansatz kaum hinaus.
Zwar schafft Kowald es, die Personen durch flache Hintergrundinformationen und einige Leerstellen vermeintlich scharf zu zeichnen, doch es fehlen Ecken und Kanten. Die Figuren wirken glattgebügelt; in ihrem Inneren und Äußeren freundlich und durchgehend „gut“: In Menschenkette gibt es kein schwarz, weiß und grau. Es gibt nur weiß. Aufgeworfene Konflikte bleiben ungelöst und werden wieder verworfen. Obwohl Sprengstoffpotenzial da ist, wird nichts gezündet.
Darüber hinaus ist zu bemängeln, dass alle Figuren mehr oder weniger identische politische, linksgemäßigte Haltungen einnehmen. Das Interessante am historischen Ereignis waren die Konflikte innerhalb der Bewegung: die Diskussionen um Doppelmoral, Blindheit gegenüber dem Osten und das Aufeinanderprallen konservativer und progressiver Strömungen. Diese Vielfalt bleibt die Autorin den Lesern und Leserinnen leider schuldig.
Ein schönes und belebendes Element des Romans ist dagegen die Montagetechnik. An jedes Unterkapitel schließt Kowald Zeitungsberichte, Redeausschnitte etc. an. So erhalten die Leser und Leserinnen ein gutes Gespür für die Stimmung der damaligen Zeit.
Ebenfalls erfreulich sind feine Beobachtungen, zum Beispiel:
Der Selbstbetrug ist der Boden, auf dem die Beschönigungen wachsen. So macht der Mensch es sich einfach, die Welt so zu sehen, wie er sie sehen will, und nicht, wie sie ist, und bemerkt den Unterschied gar nicht mehr.
Gerne dürfte es mehr solcher Sätze und stattdessen weniger triviale Phrasen geben.
Alles in allem ist Menschenkette ein Roman, dessen an sich starkes Vorhaben ein Versprechen abgibt, das nicht eingelöst wird. Eine vielschichtige Betrachtung der Ereignisse des 22. Oktobers 1983 bleibt aufgrund der flachen Figurenzeichnung und der Kumulation von Plattitüden leider aus. Das ist schade, denn an Potenzial fehlt es zu keiner Zeit.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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