Black is beautiful

Toni Morrison erzählt in ihrem Roman „Sehr blaue Augen“, wie Rassismus zu Selbsthass führt

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Roman The Bluest Eye betrat die spätere Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison 1970 die literarische Bühne. Und wäre es ihr einziger Roman geblieben, sie hätte uns ein fulminantes Stück Literatur hinterlassen, verstörend radikal, bildmächtig und sprachlich präzise, in seiner Erzählweise unkonventionell und zugleich von einer enormen Eindringlichkeit. Sie selbst blieb im Rückblick distanzierter, wie wir in ihrem 2008 verfassten Vorwort lesen können. Dieses Vorwort ist der jetzt vorliegenden Neuübersetzung beigefügt, ebenso ein Nachwort von Alice Hasters. Großartig dürfen wir auch Tanja Handels Übersetzung nennen. Sie bestätigt nebenbei, dass gelungene Übersetzungen ein Stück weit auch kongeniale Neuschöpfungen bedeuten und erfindungsreich in neuen, ungewohnten Tonarten sein müssen.

Im Mittelpunkt steht das Mädchen Pecola Breedlove. Sie ist Schwarz und wünscht sich nichts sehnlicher als blaue Augen, um endlich schön zu sein. Aber alle sagen, sie sei hässlich. Als Morrison an Pecolas Geschichte und der ihrer Familie, den Breedloves, sowie ihrer Freundinnen schrieb, in deren Familie sie vorübergehend lebt, fingen Schwarze in den USA der 1960er Jahre an, „wieder Anspruch auf die eigene Schönheit“ zu erheben unter der Parole „Black is beautiful“.

Die Autorin fing an, darüber nachzudenken, warum es überhaupt nötig sei, die Schönheit zum Thema zu machen. Dabei interessierte sie keineswegs der Widerstand gegen die rassistische Verachtung, die Schwarze durch andere erfahren, „sondern die weitaus tragischeren und lähmenderen Folgen, die es hat, wenn wir die Ablehnung als berechtigt, als etwas Selbstverständliches akzeptieren“. Mit anderen Worten, wenn die negative Fremdwahrnehmung verinnerlicht wird, sich schließlich in Selbsthass verwandelt. Genau das beschreibt Morrison am Beispiel des Mädchens Pecola.

Beeindruckt hat mich, wie sie das macht, welche literarischen Mittel sie dafür einsetzt, die ästhetische Form, die sie findet – nämlich „die Erzählung in Fragmente aufzubrechen, die die Lesenden selbst zusammensetzen müssen“, erklärt Morrison im Vorwort. Jedoch würde sie diese Vorgehensweise heute nicht mehr überzeugen, ganz abgesehen davon, dass sie auch ihren Zweck nicht erfüllte. „Viele Lesende lassen sich zwar berühren, aber nicht bewegen.“ Schwer zu sagen, wie dieses Sich-bewegen-lassen hätte aussehen sollen und können. Mein Einspruch gegen die Bedenken wäre, dass es gerade die ästhetische Avanciertheit ist, die den Denkapparat des Lesenden in Gang setzt, zumindest entsprach das meiner Leseerfahrung.

Der Roman beginnt mit einem kurzen Absatz in einfacher Sprache, der von einer Familienidylle handelt, von einem grün und weiß gestrichenen Haus, in dem zwei Kinder, eine Katze und ein Hund zusammen mit der sehr lieben Mutter und dem großen und starken Vater leben. Mehr Klischee geht nicht. Man lächelt und spielt, der Hund macht Wauwau und dann kommt noch eine nette Freundin dazu. Die Sätze werden als Überschriften auseinandergerissen und auf die folgenden Kapitel verteilt, die wiederum nach Jahreszeiten sortiert sind, beginnend mit dem Herbst. Doch die Kapitel weigern sich beharrlich, die Idylle fortzuschreiben. Was sie mitteilen, ist vielmehr das genaue Gegenteil, mit dem die heile Welt Lügen gestraft wird. Die Botschaft: Die Wirklichkeit ist anders, nicht nett und harmonisch, sondern zerrissen.

Die Erzählstimme stammt von Claudia. Ihre Familie ist es, die Pecola vorübergehend aufnimmt, weil die Breedloves gerade auf der Straße sitzen. Das war im Leben am meisten zu fürchten, wie Claudia längst wusste, auf der Straße zu sitzen, kein Dach über dem Kopf zu haben. Claudia und ihre Schwester Frieda sind selbstbewusster als Pecola, denn irgendwie ahnen sie, dass Anpassung keine Verbesserung für Schwarze bringt.

Nach und nach lernen wir die Familie Breedlove kennen – die Mutter Pauline und den Vater Cholly. Alles fing irgendwann einmal gut an, und sogar Liebe war im Spiel, doch das lag lange zurück. Mittlerweile gab es nur noch Streit:

Die kleinen, gesichtslosen Tage, die Mrs. Breedlove verlebte, wurden durch diese Streitereien markiert, eingeordnet und erfasst. Sie gaben den sonst so trüben und schnell vergessenen Minuten und Stunden Substanz. Sie erleichterten das Einerlei des Armseins, verliehen den toten Zimmern Würde.

Faszinierend auch die Nebenschauplätze: Wenn Pecola die drei Frauen Poland, China und Marie besucht, die sich der Sexarbeit verschrieben haben. „Ach, girl, als ich gemerkt hab, dass so was geht – dass Leute bares Geld dafür hinlegen, da war ich selber baff.“ Und Pecola fragt sich, wie sich denn Liebe anfühle. Oder wenn es um jenen seltsamen pädophilen Mann geht, den alle Soaphead Church nennen. „Ein karibischer Mann mit Zimtaugen und zartbrauner Haut.“ Er lädt sich gerne Mädchen ein, um sie zu betatschen.

Natürlich war ihm bewusst, dass etwas mit seinem Leben, mit jedem Leben im Argen lag, doch dieses Problem platzierte er dort, wo es hingehörte, zu Füßen des Schöpfers alles Lebens. Er glaubte, Verfall, Laster, Schmutz und Unordnung müssten in der Natur der Dinge liegen, so allgegenwärtig, wie sie waren.

Ihm, der auch als Wunderheiler bekannt ist, vertraut sich Pecola mit ihrem Wunsch an, blaue Augen haben zu wollen. Und weil ihr Wunsch längst Wahn geworden ist, glaubt sie an die geglückte „Heilung“ durch Soaphead. Die Mutter meidet die Tochter danach ebenso, indem sie den Blick von Pecola stets abwendet, wie die Freundinnen, die wiederum bekennen: „Wir schliffen an ihr unser Ich zurecht, polsterten unsere Persönlichkeit mit ihrer Schwäche und gähnten über unsere Phantasien von Stärke.“

Titelbild

Toni Morrison: Sehr blaue Augen.
Aus dem Englischen übersetzt, mit einem Nachwort von Tanja Handels.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
272 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498003678

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